Wie Krähen im Nebel
Guerrini das Messer hin.
«Porca miseria!»
, fluchte er, ließ Laura los und beugte sich über den Gestürzten. Sorgfältig untersuchte er ihn, fühlte den Puls, dann richtete er sich wieder auf.
«Ich kann keine Stichwunde finden. Er blutet nur an der Lippe, und den Riss hat er von mir. Sein Puls geht regelmäßig. Wo hast du denn das Messer her, Laura?»
Sie hielt es noch immer in der Hand, ließ es jetzt fallen, hob es schnell wieder auf, steckte es in ihre Jackentasche zurück.
«Was machst du denn da?»
«Ich weiß es nicht!», flüsterte sie. «Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass ich es in der Hand hielt. Ich hätte ihn erstechen können, Angelo! Ich hätte ihn umbringen können, ohne es wirklich zu merken! Ich hatte plötzlich so eine Wut auf dieses Schwein, so eine eiskalte Wut. Ich kenne ihn, Angelo! Ich habe lange mit ihm gesprochen, sogar ein Bier mit ihm getrunken …»
Guerrini sagte nichts, sah sie nur ruhig an.
«Das Messer habe ich Clara abgenommen, weil sie damit drohte ihn umzubringen, falls er nochmal auftaucht. Ist dasnicht verrückt? Ihr nehme ich das Messer ab und benutze es dann selbst!»
«Du hast es nicht benutzt, Laura!», entgegnete Guerrini.
«Aber das ist reiner Zufall, Angelo! Ich hatte so eine Wut, dass ich ihn umbringen wollte. Es hätte mir in diesem Augenblick nichts ausgemacht, verstehst du?»
«Aber du musstest dich doch wehren! Er hatte eine Pistole!» Guerrini stieß die kleine Waffe mit dem Fuß an.
«Es war trotzdem etwas anderes dabei, nicht nur Notwehr … ich kann es nicht genau beschreiben!»
«Lass es einfach!» Guerrini legte eine Hand auf ihre Schulter. «Hilf mir lieber, diesen Kerl in das leere Abteil hier zu schaffen. Ich denke, dass dein Kollege ebenfalls unsere Hilfe braucht!»
Laura versuchte sich zu konzentrieren. Wo befanden sie sich überhaupt? Noch in Österreich oder bereits in Deutschland?
«Waren wir schon in Kufstein?»
Guerrini sah auf seine Armbanduhr.
«In genau sechs Minuten werden wir dort sein.»
«Schnell! Wir setzen ihn ans Fenster und machen ihn mit Handschellen fest. Ich hab welche in der Tasche!»
«Ich auch!», grinste Guerrini.
«Wieso denn?», fragte Laura irritiert.
«Diese Gegenstände sind manchmal ganz nützlich!», entgegnete er, froh darüber, dass sie ihren Schock überwunden zu haben schien.
«Wir müssen ihm den Overall ausziehen, dann haben wir eine Chance, dass die Grenzschutzbeamten ihn gar nicht beachten, weil er eine Schaffner-Uniform anhat. Aber mach schnell! Sie steigen in Kufstein ein!»
Sie schleppten Bertolucci in das leere Abteil erster Klasse, streiften ihm mühsam den Overall ab, setzten ihn ans Fensterund lehnten ihn so an, dass es aussah, als schaue er hinaus. Guerrini tupfte das Blut von Bertoluccis Gesicht, fesselte ihn mit Handschellen an die Armstütze des Sitzes. Laura verstaute unterdessen die kleine Pistole in einem Plastiksäckchen und schob sie in ihre linke Jackentasche. In der rechten steckte noch immer Claras Messer. Als Guerrini zu ihr auf den Gang trat, versuchte sie ein Lächeln, sagte:
«Grazie!»
«È stato un piacere per me!»
, antwortete er.
«Sei nicht so verdammt wunderbar und höflich!» Sie drehte sich um und lief zur automatischen Tür, wusste selbst nicht, warum sie es in genau diesem Augenblick nicht aushielt, dass er so wunderbar und höflich war!
Zum Glück trennten nur drei Wagen der ersten Klasse sie vom Speisewagen. Gleich dahinter lag das Abteil der beiden Frauen. Als sie durch den Speisewagen stolperten – der Zug bremste gerade im Bahnhof Kufstein –, fiel Laura auf, dass der Kellner nicht da war. Am Tresen stand ein junger Mann, den sie noch nie gesehen hatte.
«Können Sie mir sagen, wo ich Ihren Kollegen finde? Den kleinen, mageren Mann …»
«Sie meinen Alberto! Der ist vor zehn Minuten verschwunden. Wird sicher gleich wiederkommen. Allein schaffe ich das hier nicht, wissen Sie. Er hat mich noch nie im Stich gelassen. Wo soll er denn auch hin? Aus dem Fenster springen?» Der junge Mann lachte laut.
Laura und Guerrini eilten weiter. Der Eurocity stand jetzt im Bahnhof von Kufstein. Nur wenige Reisende stiegen aus, und der Gang vor Claras und Anitas Abteil war leer. Keine Spur von Baumann, vom Kellner Alberto oder dem zweiten Schaffner. Die Vorhänge vor dem Abteil der beiden Frauen waren noch immer zugezogen.
«Wir müssen rein!», sagte Guerrini. Diesmal nahm er seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter, stellte sich seitlichan die
Weitere Kostenlose Bücher