Wie Krähen im Nebel
im Speisewagen einen Orangensaft, machte sich dann auf die Suche nach Bertolucci und Castelli. Der dünne Kellner verbeugte sich überhöflich, als sie aufstand, und Laura sah nicht, dass er in die Bordküche ging und sein Handy aus der Hosentasche zog.
Langsam wanderte sie durch die Wagen der ersten Klasse, wunderte sich ein wenig, dass die meisten Abteile leer waren. Wie verloren lehnten zwei, drei Reisende in den Polstern, schienen zu schlafen. Nur einer arbeitete an seinem Laptop. Nach ihm kam niemand mehr. Der Eurocity raste durch die Nacht, die automatischen Türen öffneten und schlossen sich,und Laura empfand plötzlich ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Sie hatte das vordere Ende des Zuges erreicht, befand sich in einem vollkommen leeren Wagen, wollte gerade zurückgehen, als sie in dem unbeleuchteten Abteil neben sich eine Bewegung wahrnahm. Instinktiv ging sie schneller, versuchte in die Nähe der anderen Reisenden zu gelangen, doch dazu musste sie den nächsten Wagen erreichen. Im gleichen Augenblick wusste sie, dass sie es nicht schaffen würde, und drehte sich um. Die dunkle Gestalt hinter ihr verharrte ebenfalls.
Der schwarze Mann, dachte Laura, und ihr fiel Rosl Meier ein. Der schwarze Mann trug einen dunklen Overall und eine Maske. In seiner Hand lag ein sehr kleiner Revolver mit Schalldämpfer.
«Geh da rein!», sagte der schwarze Mann undeutlich und zeigte auf ein leeres Abteil. Er sprach Italienisch, doch das begriff Laura erst später.
«Nein!», sagte sie.
«Du gehst da rein!» Seine Stimme war sehr leise. Er machte einen Schritt auf sie zu und richtete die Waffe auf sie. «Geh da rein, ich will wissen, wer dich geschickt hat! War’s Ombrellone oder die Tussi in München?»
Laura versuchte ruhig zu atmen und klar zu denken, drängte die Panik zurück, die in ihr aufstieg. Was hatte er gesagt? Er wollte wissen, wer sie geschickt hatte? Das bedeutete, dass er sie nicht erkannte. Sie durfte auf keinen Fall in das Abteil gehen, musste ihn hinhalten.
«Was wollen Sie von mir?», stieß sie heiser hervor. «Mich hat niemand geschickt … ich, ich wollte mir nur die Beine vertreten!»
«Halt den Mund und erzähl mir nicht solchen Mist! Wir beobachten dich schon seit Florenz! Hat Ombrellone gesagt, dass du auf die Vögelchen aufpassen sollst?» Er kam näher.
«Wer?», fragte Laura und bewegte sich vorsichtig rückwärts in Richtung auf die automatische Tür zum nächsten Wagen.
«Bleib stehen! Wenn du nicht stehen bleibst, schieße ich. Es geht ganz schnell, ein wunderbares Ding, so eine Pistole mit Schalldämpfer. Man weiß gar nicht, was passiert! Es macht gar keinen Lärm! Nur ist plötzlich jemand tot!»
«Okay! Ich bleib schon stehen. Ombrellone hat mich geschickt, und ich kann dir nur sagen, dass er sehr wütend auf dich ist. An deiner Stelle würde ich ganz schnell verschwinden und nie mehr in die Nähe von ihm kommen, sonst gibt’s dich nicht mehr!» Laura ließ ihn nicht aus den Augen, nahm jede winzige Bewegung wahr, sah gleichzeitig die Tote im Eurocity vor sich, ihren ungläubig erschrockenen Gesichtsausdruck.
«Du willst mir drohen, du kleine Nutte? Ombrellone kann dir nicht helfen! Rein da, mach schnell, sonst knallt’s!» Er war nur noch einen Schritt entfernt.
Jetzt, dachte Laura, und dann bewegte sie sich beinahe unbewusst, trat gegen sein Schienbein, schlug seinen Arm nach oben, rammte ihr Knie in seine empfindlichsten Teile. Er schoss tatsächlich, irgendwohin, begann ebenfalls zu treten und zu schlagen, griff nach ihr, hatte offensichtlich seine Waffe verloren, versuchte sie zu würgen, packte ihr Haar, riss ihren Kopf nach hinten. Dann war plötzlich noch etwas anderes über ihnen, wie eine Druckwelle aus dem Nirgendwo, unterbrach ihren Kampf mit wenigen Schlägen, und Laura kauerte sich am Boden zusammen, begriff nicht, was geschah, spürte nur, dass sie etwas in der Hand hielt.
Starrte auf ihre Hand.
Sah Claras Messer.
Starrte es an.
Stille.
Laura sah den schwarzen Mann am Boden. Er rührte sich nicht. Die Maske war von seinem Gesicht gerutscht. Blut lief über das blasse Gesicht des Schaffners Bertolucci.
Eine Hand berührte ihre Schulter, zog sie hoch, strich ihr Haar zurück. Laura lehnte sich an Guerrini, und Zittern lief durch ihren Körper.
«Halt dich fest», sagte er leise.
Es dauerte einige Minuten, ehe Laura sich wieder halbwegs gefasst hatte.
«Meinst du, dass ich ihn umgebracht habe?», flüsterte sie heiser und hielt Angelo
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