Wie Krähen im Nebel
Vielleicht war sie hübsch, aber das konnte Rosl nicht genau erkennen, weil der starre Blick und der offene Mund sie zu sehr erschreckten. Nur dass die Tote eine schwarze Lederjacke und einen sehr kurzen Rock trug, nahm sie noch wahr, dann zog sie ihren Kopf wieder zurück und horchte. Von draußen klang der schrille Ton eines Martinshorns zu ihr herein. Blaulichter flackerten über sie hin, und sie ballte ihre Fäuste, um dieses ekelhafte Zittern loszuwerden.
Als der Krankenwagen vorüber war, nahm sie einen der vollen Müllsäcke und stieg aus dem Zug. Niemand beachtetesie. So unauffällig wie möglich ging sie zurück in die Bahnhofshalle, stellte den Müllsack unterwegs auf den Anhänger eines Elektrowagens und verschwand auf der Rolltreppe ins Untergeschoss. Vor dem Fahrkartenautomaten blieb sie stehen. Vielleicht waren doch Fingerabdrücke auf der Klotür zurückgeblieben? Aber dann erinnerte sie sich daran, dass Sefika grüne Gummihandschuhe getragen hatte, und sie selbst hatte die Tür gar nicht mit den Händen berührt – nur mit ihrer Schulter, ihrem Rücken. Sie atmete jetzt beinahe wieder normal, obwohl ihre Hände noch immer feucht waren. Langsam ging Rosl auf die Treppe zu, die zum Bahnhofsplatz hinaufführte. Ein paar betrunkene Penner grölten hinter ihr her, doch Rosl hörte sie gar nicht, so sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt. Oben legte sich der Nebel auf sie wie eine schwere Decke, und Rosl war froh über die letzte Straßenbahn, die genau in diesem Augenblick vor dem Bahnhof hielt. Sie fuhr bis Karlsplatz. Dort stieg sie wieder aus, suchte eine Telefonzelle und wählte nach kurzem Zögern den Notruf der Polizei. Als der Beamte sich meldete, sagte sie nur zwei Sätze in bemühtem Hochdeutsch: «Im Eurocity aus Rom liegt eine Leiche. Wagen zwölf zwischen erster und zweiter Klasse.»
Dann legte sie auf.
Als das Telefon zu klingeln begann, schüttelte Laura Gottberg unwillig den Kopf und runzelte die Stirn, doch sie wachte nicht auf, sondern baute den schrillen Ton in ihren Traum ein, machte ihn zum Nebelhorn eines großen Schiffs, das aus der Dunkelheit auf sie zusteuerte. Sie selbst schwamm im Meer, winzig klein vor diesem ungeheuren Bug, der aus dem Nirgendwo aufgestiegen war und über sie hinwegfahren würde. Der Bug war schwarz, selbst das Meer färbte sich schwarz. Laura wurde von der wirbelnden Bugwelle erfasst, nahm nichts mehr wahr außer diesem entsetzlichen Alarmton, der auch unter Wasser in ihr Gehirn drang.
Sie warf den Kopf hin und her, erwachte von ihrem eigenen Schrei, lag einen Augenblick starr da, weil das Geräusch ihr gefolgt war. Vorsichtig öffnete sie die Augen, ließ den Blick langsam von rechts nach links wandern, suchte nach dem Schiffsbug, erkannte allmählich die vertrauten Umrisse ihrer Schlafzimmermöbel und begriff endlich, dass der Alarm kein Nebelhorn, sondern das Klingeln ihres Telefons war.
Unsicher tastete sie nach dem Lichtschalter, stieß dabei das Wasserglas auf ihrem Nachttisch um, schaute auf die Uhr. Halb zwei.
In diesem Augenblick öffnete sich die Schlafzimmertür.
«Mama?», fragte Lauras Sohn Luca verschlafen. «Hörst du das Telefon nicht? Es klingelt seit mindestens fünf Minuten!»
«Ich hab ganz tief geschlafen, Luca!», murmelte Laura. «Wo ist das verdammte Ding eigentlich?»
Luca tapste schlaftrunken zu Lauras Bett, bückte sich und zog das Telefon unter einer Zeitung hervor. Es klingelte noch immer.
«Klingt nach Dienst!» Luca drückte seiner Mutter das Telefon in die Hand.
«Dienst oder dein Großvater!», gab Laura zurück, die allmählich wach wurde. Sie drückte auf den Verbindungsknopf.
«Gottberg!»
«Na endlich, Frau Hauptkommissar! Hier Pfeiffer! Wir haben gerade einen Anruf von einer unbekannten Frau überprüft, die behauptet hat, dass im Eurocity aus Rom eine Leiche liegt.»
«Liegt eine?», fragte Laura.
«Es liegt eine!»
«Haben Sie Kommissar Baumann benachrichtigt, die Spurensicherung …»
«… den Arzt! Selbstverständlich, Frau Hauptkommissar! Nur – Kommissar Baumann hab ich noch nicht erreicht. Er hat sein Telefon auf Anrufbeantworter geschaltet und das Handy auf Mailbox.»
«So!», sagte Laura.
«Ja, genau!» Pfeiffers Stimme klang, als würde er anzüglich grinsen.
«Na gut! Sagen Sie den Kollegen, dass ich in zwanzig Minuten da bin. Hauptbahnhof?»
«Hauptbahnhof! Da ist übrigens noch was. Einer von den Rangierarbeitern hat vor dem Bahnhof einen Mann auf den Gleisen gefunden.
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