Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
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1. Im Gericht
2. April 2008
M ir dreht sich alles im Kopf. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Menschen gesehen. In dem Hof, der zum Hauptgebäude des Gerichts führt, hetzt eine Menschenmenge hin und her. Männer in Anzug und Krawatte, vergilbte Aktenstapel unter den Arm geklemmt. Andere, mit einer zanna bekleidet, der traditionellen Tunika, die man in den Dörfern des Nordjemen trägt. Und zudem all diese Frauen, die in unverständlichem Stimmengewirr schreien und weinen. Ich würde gerne von ihren Lippen ablesen, was sie zu sagen versuchen, doch die Ton in Ton auf die langen schwarzen Schleier abgestimmten niqabs lassen von ihren Gesichtern nur ihre runden Augen durchscheinen. Man könnte meinen, es seien Handgranaten kurz vor der Explosion. Wütend sehen sie aus, als hätte ein Wirbelsturm gerade ihr Haus zertrümmert. Ich spitze die Ohren.
Von ihren Gesprächen erhasche ich nur ein paar Wörter: »Sorgerecht für das Kind«, »Justiz«, »Menschenrechte« … Ich weiß nicht so recht, was das bedeutet. Nicht weit von mir erzählt ein Riese mit kantigen Schultern, den Turban auf die Schläfen gepfropft und eine Plastiktüte voller Schriftstücke unterm Arm, jedem, der es hören will, dass er hergekommen ist, um sich das Land, das man ihm genommen hat, zurückzuholen. Autsch! Der Kerl hätte mich fast gerammt, der springt ja hin und her wie ein verschreckter Hase.
So ein Durcheinander! Ich muss an den Al-Qa-Platz denken, den Platz der Arbeitslosen im Herzen von Sanaa, von dem
Aba
oft spricht. Jeder will der Erste ein, um eine Anstellung für den Tag zu ergattern, beim ersten Sonnenstrahl, gleich nach dem
azan
, dem Aufruf zum Morgengebet. Diese Männer haben solchen Hunger, dass sie da, wo bei anderen das Herz ist, einen Stein in der Brust haben. Keine Zeit, mir über das Schicksal anderer Gedanken zu machen. Trotzdem würde ich mir so sehr wünschen, dass mich jemand an der Hand nimmt, mich mitfühlend ansieht.
Dass man mir zuhört, nur das eine Mal! Aber es ist, als sei ich unsichtbar. Keiner sieht mich. Ich bin zu klein für sie. Ich reiche ihnen gerade bis zur Hüfte. Ich bin erst zehn Jahre alt, vielleicht noch nicht mal, wer weiß?
Das Gericht hatte ich mir anders vorgestellt, eher als einen ruhigen, sauberen Ort. Ein großes Haus, wo das Gute gegen das Böse siegt, wo alle Probleme der Welt gelöst werden. Im Fernsehen, bei den Nachbarn, hatte ich schon Gerichtssäle gesehen, mit Richtern in langer Tracht. Es heißt, sie könnten den Menschen in Not helfen. Ich muss einen finden und ihm meine Geschichte erzählen. Ich bin erschöpft. Mir ist warm unter meinem Schleier. Ich schäme mich, und mein Kopf tut mir weh. Habe ich die Kraft, weiterzumachen? Nein. Ja. Vielleicht. Zu spät, jetzt einen Rückzieher zu machen, sage ich mir. Das Schlimmste ist vorbei. Jetzt muss es vorwärtsgehen.
Als ich heute Morgen das Haus meiner Eltern verließ, habe ich mir geschworen, es erst wieder zu betreten, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Es war genau zehn Uhr.
»Geh Brot kaufen für das Frühstück«, hatte meine Mutter gesagt und mir 150
Rial
gegeben.
Automatisch knotete ich meine langen dunkelbraunen Haare unter meinem schwarzen Kopftuch zusammen und hüllte meinen Körper in einen gleichfarbigen Mantel – die Kleidung der jemenitischen Frauen, wenn sie auf die Straße gehen. Zitternd ging ich ein paar Meter, dann nahm ich den ersten Minibus, der auf dem breiten Boulevard Richtung Stadtzentrum fuhr. An der Endstation stieg ich aus. Und zum ersten Mal in meinem Leben bezwang ich meine Angst und stieg ganz alleine in ein gelbes Taxi.
Im Hof zieht sich das Warten in die Länge. An wen soll ich mich wenden? Unverhofft bemerke ich in der Menge verständnisvolle Blicke. Drüben bei der Treppe, die zum Eingang des großen Gebäudes aus sandfarbenem Zement führt, stehen drei Jungen in Plastiksandalen und mustern mich von Kopf bis Fuß. Ihre Gesichter sind ganz schwarz vor Staub. Sie erinnern mich an meine Brüder.
»Dein Gewicht für zehn
Rial
!«, ruft der eine mir zu und schwenkt eine alte verbeulte Waage.
»Ein Tee für deinen Durst!«, bietet mir ein anderer an und schaukelt einen kleinen Korb voll dampfender Gläser hin und her.
»Einen frischen Möhrensaft?«, fragt der dritte, wobei er sein schönstes Lächeln aufsetzt und gleichzeitig die Hand ausstreckt in der Hoffnung, ein Geldstück zu bekommen.
Nein, danke. Ich habe keinen Durst. Und ehrlich gesagt, ist es mir völlig egal,
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