Wie Liebe Heilt
muss einfach mit jemandem darüber sprechen. Aber mit wem? Ich glaube nicht, dass ich das alleine durchstehen kann!«
Bis zu diesem Augenblick hatte mich noch nie eine schwere körperliche oder psychische Krankheit bedroht, mit der ich nicht selbst fertig geworden wäre. Ich war immer stolz darauf gewesen, wie stark, unabhängig, engagiert und tüchtig ich war. Ich strebte nach Perfektion, wie viele Frauen. Weniger als perfekt war nicht gut genug und würde bedeuten, dass ich nicht gut genug war. In meinem Selbstverständnis war kein Platz dafür, jemanden um Hilfe bitten zu müssen. Um Hilfe zu bitten, war gleichbedeutend mit Schwäche, Verwundbarkeit, Schmach. Alle diese Vorstellungen, die ich von mir hatte, zerfielen von einem Moment auf den anderen. Ich wurde mit meiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert, und alle meine Ziele, die ich so konsequent verfolgt hatte, waren plötzlich unwichtig und fragwürdig geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, jede Kontrolle über meinen Körper und meine Gesundheit zu verlieren. Ich konnte nicht umhin, jemanden um Hilfe zu bitten. Mit einem Schlag fühlte ich mich als Opfer.
Ich habe Hilfe gesucht, und ich habe es jemandem erzählt. Noch in dieser Nacht fragte ich einen Spezialisten für Infektionskrankheiten, wie gefährlich dieser Stich mit der HIV-verseuchten Nadel sein könnte. Alles, was ich hörte, war »hohes Ansteckungsrisiko«. In meiner Vorstellung hieß das, dass ich sterben würde.
Der behandelnde Arzt versuchte mich mit Statistiken zu trösten. Doch ich konnte nicht aufhören zu weinen. Alle beruhigenden Worte schafften es nicht, meine Ängste zu vermindern und die Gedanken zu stoppen, die mir durch den Kopf rasten.
Am nächsten Tag begann ich mit der prophylaktischen Einnahme von Anti-HIV-Medikamenten. Auch beschloss ich, meine Familie einzuweihen, was mir alles andere als leichtfiel. Immer hatte ich mich als die »Starke« gesehen, diejenige, auf die alle anderen bauen konnten. Ich schämte mich dafür, dass ich »versagt« hatte, dass ich verwundbar war und dass ich ein Mensch war wie alle anderen – ein Mensch, der einen riesengroßen Fehler gemacht hatte. Meiner Familie davon zu erzählen, würde ihnen Schmerz zufügen und mich demütigen. Ich hasste die Vorstellung, ihnen solche Sorgen zu bereiten.
Dennoch, da saßen wir nun – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder – in dem engen Wohnzimmer und hielten uns weinend umschlungen. Von diesem Moment an wichen sie nicht mehr von meiner Seite.
In den folgenden sechs Wochen entwickelte sich bei mir infolge der Medikamente eine Anämie, ich litt unter ständiger Erschöpfung und hatte Anfälle von äußerst peinigenden Bauchschmerzen. In dieser Zeit begriff ich, was es heißt, krank zu sein, voller Angst, bedrückt, auf die Unterstützung anderer angewiesen und ohne Kontrolle über das eigene Leben.
Dieser Nadelstich war der Beginn von sechs fürchterlichen Monaten, die geprägt waren von persönlichen Katastrophen: dem Tod meines Großvaters, dem Tod meines Hundes, einer Verleumdungskampagne durch einen Menschen, den ich nicht einmal kannte und der versuchte, mich bei der Gesundheitsbehörde anzuschwärzen, einem Feuer, das mein Apartment verwüstete und nur eine rauchgeschwärzte Höhle hinterließ, und schließlich wurde mein Vater auch noch mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert.
Selbst als ich schließlich den Befund bekam, dass ich nicht HIV-infiziert war, ging es mir nicht besser. Die Belastungen der vergangenen Monate hatten mich aufgerieben. Ich hatte in der kurzen Zeit zu viele Verluste erlitten. Ich zog mich zurück und verschloss mich. Ich konnte weder lachen noch denken noch mich an etwas erinnern. Meine Facharztprüfungen standen kurz bevor, aber es fehlte mir jede Motivation für das Lernen. Ich war in ein tiefes Loch gefallen und fand nicht mehr heraus.
Doch obwohl ich alles dafür tat, mich vom Leben zurückzuziehen, ließ das Leben – in Gestalt meiner Freunde, meiner Familie und meiner Kollegen – mich nicht allein. Sie sahen in mir jemanden, der es wert war, geliebt zu werden. Sie scharten sich um mich und zwangen mich, unter Menschen zu gehen, obwohl ich nichts lieber wollte, als zu Hause zu bleiben und mich zu verstecken. Sie blieben bei mir, wenn ich mich einsam fühlte, erinnerten mich daran, dass jeder Tag auch neue Hoffnung und neue Chancen mit sich bringt.
Ich habe es geschafft, wieder ins Leben zurückzufinden,
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