Wie man einen verdammt guten Roman schreibt
einem Klumpfuß geboren worden wäre? Oder aus einer flachbrüstigen Marilyn Monroe? Aus John McEnroe mit einem verkrüppelten Arm? Aus Barbara Streisand mit einer Piepsstimme? Offensichtlich wäre dadurch nicht nur ihre Berufswahl beeinflußt worden, auch ihr jeweiliger Charakter hätte sich ganz anders entwickelt. Ein kleiner Mann kann sein Gewicht nicht mit dem gleichen Effekt »in die Waagschale werfen« wie ein großer Mann. Hübsch oder häßlich, klein oder groß, dünn oder dick - all diese körperlichen Eigenschaften beeinflussen die mögliche Entwicklung einer Romanfigur genauso, wie es bei Menschen aus Fleisch und Blut der Fall wäre.
Wie die Gesellschaft unseren Charakter prägt, hängt von unserer äußeren Erscheinung ab: Größe, Geschlecht, Körperbau, Hautfarbe, Narben, Verunstaltungen, Abnormitäten, Allergien, Körperhaltung, Stimmlage, Mundgeruch, Neigung zu Schweißausbrüchen, nervöse Ticks und Gesten usw. Ein schlankes, zartes Mädchen mit großen blauen Augen wächst mit völlig anderen Erwartungen hinsichtlich dessen auf, was sie mit ihrem Leben anfangen kann, als ihre Schwester mit der spitzen Nase und den Froschaugen. Um eine Figur wirklich abrunden zu können, muß man ihre Physiologie durch und durch verstanden haben.
Die zweite von Egris drei Dimensionen ist die soziologische. Welcher sozialen Schicht gehört die Figur an? In welchem Milieu ist sie aufgewachsen? Welche Schulen hat sie besucht? Welche politischen Ansichten hat sie angenommen? Welcher Religionsgemeinschaft gehört sie an? Was hielten ihre Eltern von Sex, Geld, Karriere? Hat man ihr viel Freiheit gelassen oder keine? War ihre Erziehung streng oder locker oder irgendwo dazwischen? Hatte sie viele Freunde oder nur ein paar; und was für welche? Ein Junge von einer Farm in Missouri ist in einem anderen Land aufgewachsen als ein Kind aus Spanish Harlem in New York. Um eine Figur völlig zu verstehen, muß man die Herkunft ihrer Eigenschaften bis zum Ursprung zurückverfolgen können. Der Charakter eines Menschen wird durch das soziale Klima geformt, in dem er heranwächst, egal ob es sich um ein reales menschliches Wesen handelt oder um eine Romanfigur. Solange ein Autor nicht die Entwicklung seiner Figur von Grund auf kennt, sind deren Beweggründe nicht ganz zu verstehen. Es sind diese Beweggründe, die die Konflikte produzieren und die erzählerische Spannung erzeugen, die Ihr Roman haben muß, wenn er die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln will.
Die psychologische Dimension, Egris dritte, ist das Ergebnis der physiologischen und der soziologischen. Innerhalb der psychologischen Dimension finden wir Phobien und Manien, Komplexe, Ängste, Hemmungen, Schuldgefühle, Sehnsüchte, Phantasien usw. Die psychologische Dimension schließt Dinge ein wie Intelligenz, Begabungen, besondere Fähigkeiten, Schlüssigkeit der Argumentation, Gewohnheiten, Erregbarkeit, Empfindlichkeit, Talente und ähnliches. Um einen Roman zu schreiben, brauchen Sie kein Psychologe zu sein. Sie müssen nicht Freud oder Jung oder Frau Irene gelesen haben, und Sie müssen auch nicht in der Lage sein, den Unterschied zwischen einem Psychopathen und einem Schizophrenen zu bestimmen. Aber Sie müssen die Natur des Menschen studieren und verstehen lernen, warum Leute tun, was sie tun, und sagen, was sie sagen. Versuchen Sie die Welt zu Ihrem Laboratorium zu machen. Wenn die Sekretärin in Ihrem Büro kündigt, fragen Sie sie, warum. Eine Bekannte will sich scheiden lassen? Hören Sie zu, worüber sie sich beklagt. Warum hat sich Ihr Zahnarzt einen Beruf ausgesucht, bei dem er gezwungen ist, anderen weh zu tun und den ganzen Tag anderen Leuten im Mund herumzufummeln? Meiner hat geglaubt, er würde dabei reich werden, aber bis jetzt kann er nicht einmal die Raten für seine diversen Apparate und Maschinen pünktlich bezahlen. Es ist erstaunlich, was die Leute einem erzählen, wenn man höflich fragt und mit Anteilnahme zuhört. Viele Romanautoren führen Tagebuch oder machen Charakterskizzen von Menschen, denen sie begegnen; das ist eine gute Idee. Grace Metalious hat, wie man hört, Peyton Place (»Die Leute von Peyton Place«) mit Freunden und Nachbarn aus ihrer Heimatstadt bevölkert, und jeder, den sie kannte, hatte keine Schwierigkeiten, herauszukriegen, um wen es sich bei all den schamlosen Figuren, die von einem Bett ins andere hüpfen, in Wirklichkeit handelte. Sie verlor ein paar Freunde, bekam von ein paar Nachbarn die kalte Schulter
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