Wie man einen verdammt guten Roman schreibt
erst glücklich und im nächsten Moment verzweifelt, manchmal ändern sich ihre Gefühle so oft wie sie Luft holen. Homo fictus dagegen kann kompliziert sein, flatterhaft, sogar geheimnisvoll, aber er ist immer faßbar. Wenn er das nicht ist, klappt der Leser das Buch zu, und das wär’s dann gewesen.
Ein anderer Grund dafür, daß die beiden Arten nicht identisch sind, hängt mit dem Platzmangel in einem Roman zusammen. Deshalb ist homo fictus einfacher, genauso, wie das Leben in einer Geschichte einfacher ist als draußen in der wirklichen Welt.
Wenn Sie alles aufschreiben wollten, was Ihnen, sagen wir: während des Frühstücks heute morgen widerfahren ist, könnten Sie daraus ein dickes Buch machen - wenn Sie die Millionen Sinneswahrnehmungen, Gedanken und Bilder, die Ihnen durch den Kopf gehen, mit einbeziehen. Wenn ein Schriftsteller das Leben einer Romanfigur beschreiben will, muß er darauf achten, nur die Eindrücke, Gedanken, Reflexionen, Wahrnehmungen, Gefühle, Wünsche usw. aufzunehmen, die für die Motive, die Entwicklung der Figur und für ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, von Bedeutung sind - Eigenschaften, die charakteristisch dafür sind, wie die Figur mit den Schwierigkeiten fertig wird, die die Geschichte für sie bereithält.
Das Ergebnis dieses Selektionsprozesses sind Figuren, die zwar einige Ähnlichkeit mit dem wirklichen Leben haben, aber trotzdem keine richtigen Menschen sind. Homo fictus ist eine Abstraktion, die das Wesen, aber nicht die Gesamtheit des homo sapiens wiedergeben soll.
DIE UNTERARTEN DES HOMO FICTUS
Es gibt zwei Typen des homo fictus. Der einfachere wird »flach« genannt, »schematisch« oder »eindimensional«. Figuren dieses Typs werden für kurze »Auftritte« gebraucht. Sie »treten auf«, sagen einen Satz oder zwei, und das war’s. Sie sind die Kellner, Zeitungsausträger, Portiers, Botenjungen. Sie können farbige Typen sein oder nichtssagend, völlig überdreht oder ganz ruhig. Aber sie sind immer Randfiguren, stehen nie im Mittelpunkt; der Leser hat an ihnen nur ein vorübergehendes Interesse. Sie lassen sich leicht mit einem Etikett versehen und haben anscheinend nur einen Charakterzug. Sie sind gierig oder bigott oder feige oder servil oder geil usw. Sie können den Leser für einen kurzen Moment erschrecken, belehren oder amüsieren, aber sie können sein Interesse nicht über einen längeren Zeitraum fesseln. Sie haben keine Tiefe; der Autor erläutert weder ihre Motive noch ihre inneren Konflikte - ihre Zweifel, Befürchtungen oder Schuldgefühle. So-lange eindimensionale Figuren nur in den kleineren Rollen Ihres Romans zum Einsatz kommen: okay. Aber sobald sie für Hauptrollen benutzt werden, die des großen Schurken etwa, wird aus einer dramatischen Geschichte eine melodramatische.
Der andere Figurentyp wird »abgerundet« genannt, »vielschichtig« oder »dreidimensional«. Alle Hauptfiguren in Ihrem Roman sollten zu dieser Gattung gehören, auch die Schurken. Abgerundete Figuren sind schwer festzulegen. Sie haben komplexe Motive, widersprüchliche Wünsche, sind leidenschaftlich und ehrgeizig. Sie haben schwere Sünden begangen und große Qualen ertragen: sie sind voller Sorgen, Schmerzen und ungelöster seelischer Probleme. Der Leser hat das deutliche Gefühl, daß sie längst da waren, bevor der Roman begonnen hat, daß sie ein reiches und erfülltes Leben geführt haben. Leser sind an Details über das Leben solcher Figuren äußerst interessiert, weil es sich lohnt, ihre Bekanntschaft zu machen.
WUNDERBAR ABGERUNDETE FIGUREN
ERSCHAFFEN, ODER:
WIE MAN GOTT SPIELT
George Baker behauptet in seinem Buch Dramatic Technique von 1919, daß »großes Drama auf sicherem Erfassen und ebenso sicherer Präsentation komplexer Figuren beruht (…), daher lautet die alte Maxime ‘Erkenne dich selbst’ bezogen auf den Dramatiker: ‘Lerne deine Figuren so genau wie möglich kennen’.«
Wie müssen Sie also vorgehen, wenn Sie Ihre Figuren »so genau wie möglich kennenlernen« wollen?
In seinem Standardwerk The Art of Dramatic Writing (1946) beschreibt Lajos Egri eine abgerundete Figur als dreidimensional. Die erste Dimension nennt er die physiologische, die zweite die soziologische und die dritte die psychologische.
Die physiologische Dimension einer Figur umfaßt deren Größe, Gewicht, Alter, Geschlecht, Rasse, Gesundheitszustand usw. Was wäre z.B. aus Jesse Owens geworden, wenn er mit
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