Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Klapperkiste durch die Gegend zu fahren. Sie weiß erstaunliche Details über die Produktion der 131er. Man hört nur mit einem Ohr zu.
Wie ein Feldwebel marschiert die Hundertjährige durch die Wohnung. Alles wird begutachtet, das antike Nachtkästchen (hübsch!), die Küche (kein Dunstabzug?), das Schlafzimmer(hm), die Matratze auf dem Boden (na!). Dann gibt es Kaffee. Tante Ernestine rührt in ihrer Tasse und blickt in die Ferne. – So baut sich die Jugend ihr Nest, sagt sie.
Im Leben jedes Menschen scheint es Stereotype zu geben, und das gilt besonders für die Liebe. Es gibt Frauen, die sich aus unerfindlichen Gründen immer in Männer verlieben, von denen sie verprügelt werden, es gibt solche, die sich immer wieder mit jüngeren Männern einlassen. Es gibt Männer, die eine Vorliebe für übergewichtige Blondinen haben, und solche, die besessen sind von unglückseligen Konstellationen, etwa Liebe zur Stiefmutter, Liebe zur Schwester, Liebe zur Vorgesetzten.
Wenn man die Matura hinter sich hat, stellt man fest, dass man auch zu einer solchen Gruppe gehört.
Iris hat eine Cousine aus Italien, mit der man viel lieber zusammen wäre als mit Iris. Cousine Paoletta ist noch unnahbarer als Veronika. Sie ist einige Jahre älter, beendet bald ihr Archäologiestudium, lebt allein und hat einen langen, schlanken Hals, an dem eine Bernsteinkette baumelt.
Nie im Leben würde man es sich einfallen lassen, bei ihr etwas zu versuchen. Schon der Gedanke an eine derartige Annäherung wäre Blasphemie. Als würde sich ein fetter, hüftkranker Dackel an einen Dalmatiner heranmachen. Aber an den nicht so seltenen Abenden, an denen man mit Paoletta und Iris ausgeht, könnte man weinen vor Sehnsucht.
Merke: Wenn man mit der Frau, die man in Wahrheit liebt, im Rahmen diverser Unternehmungen im Freundeskreis viel zu tun hat, mit ihr wandern und schwimmen geht und dabei in aller Deutlichkeit gezeigt bekommt, was man nie besitzen wird, leidet man wie ein Hund.
Abgesehen von solchen Missständen sind diese ersten Wochen in Freiheit etwas Wunderbares. Wenn man die Matura bestanden hat, meint man, auf dem Dach der Welt zu stehen. Es ist gar nicht notwendig, große Pläne für die Zukunft zu haben. Es genügt, unter dem Einfluss von Cannabis im Bett zu liegen und psychedelische Musik zu hören. Man ist glücklich wie nie zuvor. Aller Druck ist abgefallen. Alles ist gut. Österreich ist frei.
Aus diesem erfreulichen Zustand taucht man nur allmählich wieder auf. Vorzugsweise dann, wenn gerade das Dope ausgegangen ist.
– Charlie, merkst du eigentlich, dass du die ganze Zeit über vor dich hinsingst?, ruft Iris.
– Ich? Ich singe? Da täuschst du dich.
– Die ganze Zeit über, Charlie, ein Jaulen, ein Winseln und so leise, es hört sich an, als wäre im Schrank eine Katze eingeklemmt.
An Tagen, an denen Iris früh aus dem Haus muss, weil sie sich ein Praktikum beim Rundfunk in den Kopf gesetzt hat, fischt man die Zeitung vom Türvorleger und bereitet sich ein opulentes Frühstück. Zwischen dem dritten Stück Gebäck mit Marmelade und dem Schinkentoast geht man nach unten, um die Post zu holen.
Umschläge, die eine Rechnung vermuten lassen, macht man nicht auf, nimmt sich vor, es später zu tun oder am nächsten Tag. Etwas anderes bekommt man selten. Dabei ist man ganz versessen auf Post. Man wird das Gefühl nicht los, es könnte einem über den Postweg Großes widerfahren.
Nach dem Essen stellt man sich ans Fenster, grüßt die alte Frau gegenüber, die den Vormittag mit Fensterschauen verbringt, sieht auf die Straße hinunter und denkt nach.
Es drängt sich die Frage auf, was man mit dem neuen Leben anfangen soll. Lehrer will man nicht mehr werden. Lehrer zu sein bedeutet, dem Teufel zur Hand zu gehen. Am Studieren führt kein Weg vorbei, da die Alternative Arbeit hieße. Doch was studieren? Und welche Perspektiven bietet die getroffene Entscheidung?
Nicht, dass man keine Interessen hätte. Am liebsten würde man etwas machen, das mit Musik zu tun hat. Man singt gern, man hat eine qualitativ und dank Tante Ernestine quantitativ beeindruckende Plattensammlung, man liebt Musik. In einer Band würde man gern singen, aber dazu hat man zu wenig Mumm und vermutlich auch zu wenig Talent. Gern würde manmit Bands auf Tour gehen. Als Bühnenarbeiter, als Tontechniker, als irgendwas. Aber man kennt niemanden.
Wenn man nicht weiß, was man machen soll, geht man zur Studienberatung.
– Wofür
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