Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Gesellschaften merkt man, wie drängend das Iris-Problem geworden ist. Da man Skrupel hat, will man die Freundin nicht betrügen. Doch diese Abende erlebt man in so großen Runden, dass auch für einen Dicken etwas abfallen würde. Es gibt immer ein einsames Mädchen, das sich um drei Uhr früh nimmt, was übriggeblieben ist. Und es ist hart, fett zu sein und dennoch Nein sagen zu müssen. Zumal man nicht weiß, ob man Iris noch liebt.
Tatsache ist bloß, dass man vor derselben Situation steht wie Jahre zuvor mit der Fliege Puck. Man stellt fest, dass ein Problem immer wieder aufzutauchen scheint: Man lebt in einer Beziehung und hätte gern Sex mit anderen. Das Wesen der monogynen Verbindung erlaubt dies nicht. Also bleiben Betrug, Trennung oder exzessive Masturbation.
Merke: Das System menschlicher Geschlechtsverbindungen ist unausgereift und weist schwere Mängel auf.
Wenn man neunzehn ist, stellt man sich zum ersten Mal eine der kniffligsten Fragen, die das Leben bereithält: Woran misst man, ob man den Partner noch liebt?
Wenn man die erste Prüfung an der Universität bestanden hat, fährt man zu Mutter, um ganz nebenbei, aber mit heimlichem Stolz, das Zeugnis zu präsentieren. In der letzten Zeit hat sie sich etwas gefangen. Alkohol trinkt sie nur noch gelegentlich, und Tabletten schluckt sie gar keine mehr. Den akademischen Fortschritten ihres Sohnes bringt sie dennoch nicht viel Interesse entgegen. Anders als beim Maturazeugnis wirft sie nur einen Blick auf das gestempelte Papier, sagt Aha und läuft ins Nebenzimmer, um Diätpillen zu holen, die sie für einen besorgt hat.
– Sogar mein Chef hat etwas gesagt. Er hat dich auf der Straße gesehen. Am nächsten Tag kommt er zu mir und sagt, aber liebe Frau, Ihr Sohn hat tüchtig zugelegt. So hat er es gesagt. Und gesungen hast du, gegrölt, hat er gesagt.
Außerdem erhält man neben neuen Unterhosen und zwei Paar karierten Socken eine Gesichtscreme. Die unreine Haut komme vom Naschen, bekräftigt Mutter ihren Wunsch nach vernünftigeren Ernährungsgewohnheiten. Man faltet sein Zeugnis, packt seine Tasche und winkt Mutter dankend zu.
Da man das Studium nicht mit überbordendem Eifer betreibt, bietet die ersparte Zeit Gelegenheit, sich über Vorgänge in Politik und Kultur zu informieren. Dies ist wichtig, schärft den Geist und läutert den Charakter. Entsprechendes Wissen bezieht man aus einer liberalen Wochenzeitung, die von sozialdemokratischen Gymnasiallehrern gern gelesen wird.
Diese Monate sind die Zeit der wahren politischen Sozialisation. Was der Fall der Berliner Mauer bedeutet, weiß man zwar nicht genau, weil man jung und Österreicher ist. Beim Anblick der jubelnden Menschen hat man Tränen in den Augen. Der Ruf »Wir sind das Volk!«, von unzähligen Kehlen zugleich ausgestoßen, beeindruckt und sorgt für Gänsehaut. Man freut sich mit diesen Leuten. Insgeheim wünscht man sich sogar, dass die Menge mit dem Politbüro auch physisch aufräumt. Das behält man jedoch für sich.
Bei der Donnerstagsversammlung des VSSTÖ, des Verbands Sozialistischer Studenten, hält man sich in den Diskussionen zurück. Man ist da irgendwie reingeraten, wurde von Studienkollegen mitgeschleppt, und nun sitzt man jeden Donnerstag in den modrig riechenden Kellerräumen, wo die Versammlungen des Verbandes stattfinden.
Dieser Verband, im Jargon kurz »Faust« genannt, ist eine ehrenwerte und sympathische Einrichtung, dient er doch neben der politischen Bewusstseinsbildung dem Projekt, frisch vom Land zugezogenen Studentinnen die Idee der freien Liebe näherzubringen. Wenn der Faust-Vorsitzende erinnert, Prüderie sei bürgerlich, nickt man und zwinkert einem dicken Mädchen nicht undogmatisch zu. Zwar wird nirgendwo geschossen, und die revolutionäre Spannkraft der Gruppe erschöpft sich im Bemalen von Transparenten, auf denen zur Solidarität mit Kuba aufgerufen wird. Aber wie der Vorsitzende sagt, jeder Revolution muss durch fröhliche Agitation der Weg bereitet werden.
Solche Reden hört man sich gern an. Man sieht, welchen Eindruck sie auf die eine oder andere Landpomeranze machen. Zum hundertsten Mal bedauert man, sexuell gebunden zu sein. Zwar wird man den Verdacht nicht los, dass der Vorsitzende selbst nicht restlos vom Inhalt seiner Brandreden überzeugt und mehr an der fleischlichen Vorbereitung des Umsturzes interessiertist. Doch verübeln kann man ihm das nicht. Man sitzt da, reicht den Joint weiter, den man liebevoll »unseren Joe«
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