Wie man mit einem Lachs verreist
mir einmal, als setzte
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plötzlich mein Herzschlag aus, in einer Art Kurzschluß zwischen Erinnerung und gegenwärtigem Bild, als ich in einem
schwankenden Flugzeug saß, das im brasilianischen Urwald landen sollte, in einem Ort, den ich als Sao Jesus da Lapa in Erinnerung habe. Das Flugzeug konnte nicht landen, weil zwei schläfrige Hunde mitten auf der Betonpiste lagen und sich nicht von der Stelle rührten. Wo der Zusammenhang ist? Es gibt keinen, so funktionieren Epiphanien.
Jener Tag aber, jener Julinachmittag einer langen Verführung, zwischen mir und dem Sonzogno-Heft, dem Heft und mir,
zwischen meinem Verlangen und dem schwülen Widerstand
der weiten alessandrinischen Räume - und wer weiß, ob das Heft nicht nur der Projektionsschirm war, die Maske anderer Verlangen, die bereits meinem Körper und meiner Phantasie zusetzten, als diese noch weder Fisch noch Fleisch waren -, jene lange begehrliche Radfahrt im leeren Sommer, jene
konzentrische Flucht, all das bleibt mir in seinem Schrecken eine herzzerreißende Erinnerung, herzzerreißend vor Süße und
- so würde ich sagen – vor Stammesstolz. So sind wir eben, genau wie die Stadt.
Um die Geschichte zu Ende zu bringen: ich entschied mich schließlich und kaufte das Heftchen. Wenn ich mich recht erinnere, war es eine Imitation des Atlantis-Romans von Pierre Benoit, aber mit einem Schuß Jules Verne. Als die Sonne unterging, war ich - in meinem Zimmer eingeschlossen -bereits aus Alessandria entschwunden, ich fuhr über schweigende Meeresgründe, sah andere Sonnenuntergänge und andere
Horizonte. Mein Vater meinte, als er nach Hause kam, ich läse zuviel, und sagte zu meiner Mutter, ich sollte öfter mal an die frische Luft. Dabei war ich gerade dabei, mich von zuviel Raum zu entwöhnen.
Nie übertreiben
Ich erlitt einen Schock, als ich, älter geworden, in Turin auf die Universität kam. Die Turiner sind Franzosen, jedenfalls Kelten, nicht ligurische Barbaren wie wir. Meine neuen Kameraden erschienen morgens in den Fluren der Uni mit einem schönen Hemd und einer schönen Krawatte, lächelten mich an und
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kamen mir mit ausgestreckter Hand entgegen: »Ciao, wie
geht's?« So etwas war mir noch nie passiert. In Alessandria begegnete ich Kameraden, die eine Mauer zu stützen schienen, sie sahen mich unter halbgeschlossenen Lidern an und sagten mit verhaltener Herzlichkeit: »Ehi, stüpid!« (He, Blödmann!) Neunzig Kilometer entfernt davon, und schon eine andere Kultur! Ich bin noch so tief von ihr durchdrungen, daß ich darauf bestehe, sie für überlegen zu halten. Bei uns lügt man nicht.
Als auf Togliatti geschossen wurde, gab es einen Volksauflauf.
Ab und zu kommt es vor, daß die Alessandriner sich erregen.
Sie strömten auf der Piazza della Libertà zusammen, die damals noch Piazza Ratazzi hieß. Dann griff das Radio ein und meldete, daß Bartali die Tour de France gewonnen hatte. Ein brillanter Schachzug der Massenmedien, der, wie es heißt, in ganz Italien funktionierte. In Alessandria funktionierte er nicht so gut, wir sind gewiefte Leute, uns bringt man nicht mit einer Radrennfahrergeschichte dazu, Togliatti zu vergessen. Aber auf einmal erschien ein Flugzeug über dem Rathaus. Es war
vielleicht das erste Mal, daß ein Flugzeug mit Reklamestreifen über Alessandria flog, und ich weiß nicht mehr, wofür es Reklame machte. Es war kein teuflischer Plan, es war ein Zufall. Die Alessandriner sind mißtrauisch gegenüber
teuflischen Plänen, aber sehr nachsichtig gegenüber dem Zufall. Die Menge beobachtete das Flugzeug, kommentierte die neue Idee (eine schöne Idee, mal was anderes als sonst, was denen nicht alles einfällt, wart' nur, was die noch erfinden werden ...). Jeder äußerte ganz entspannt seine Meinung sowie seine tiefverwurzelte Überzeugung, daß die Sache jedenfalls nichts an der allgemeinen Kurve der Entropie und dem
Wärmetod des Universums ändern werde - sie nannten es nicht so, aber das war's, was mit jedem Halbsatz auf alessandrinisch gemeint war. Danach gingen alle nach Hause, denn der Tag hatte keine Überraschungen mehr in petto. Togliatti sollte alleine sehen, wie er zurechtkam.
Ich kann mir denken, daß solche Geschichten, wenn man sie anderen Leuten erzählt (ich meine Nicht-Alessandrinern), Abscheu erregen. Ich finde sie herrlich. Ich finde, sie passen zu
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anderen herrlichen Epiphanien, die uns von der Geschichte einer Stadt geboten werden, der es gelungen ist, sich mit Hilfe des
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