Wie man sich beliebt macht
ihren dünnen Plastikfingern nach ihm.
Sofort hörte Jason auf, mit den Beinen zu baumeln.
Meine Mutter kam aus dem Büro gestürzt. »Meine Güte. Ich hab gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist!«, sagte sie und schob wie üblich einen dicken Kugelbauch vor sich her. Ich habe den Verdacht, dass meine Eltern insgeheim planen, den örtlichen Rekord im Kinderkriegen zu brechen. Innerhalb von sechzehn Jahren hat Mom sechs Kinder zur Welt gebracht - meinen zukünftigen neuen Bruder bzw. Schwester schon mit eingerechnet. Und wenn das neue Baby auf der Welt ist, sind wir die kinderreichste Familie der ganzen Stadt, falls man die Grubbs, die acht Kinder haben, nicht mitzählt. Aber die gelten eigentlich nicht, weil das Containerhaus, in dem sie wohnen, nicht mehr richtig in Bloomville, sondern an der Gemeindegrenze steht. Außerdem glaube ich, dass ihnen
inzwischen ein paar der jüngeren Kinder weggenommen wurden, weil das Jugendamt Wind davon bekommen hat, dass Mr Grubb seinen Kindern immer »Limonade« aus Joy mit Zitrusduft gemacht hat.
»Guten Abend, Mrs Landry«, sagten Jason und Becca.
»Ach, hallo, Jason! Hallo, Becca!« Meine Mutter strahlte die beiden an. Das macht sie in letzter Zeit öfter. So strahlen, meine ich. Nur dann nicht, wenn mein Großvater in der Nähe ist. Dann guckt sie finster. »Heute ist euer letztes Ferienwochenende! Was macht ihr denn Schönes? Gibt vielleicht jemand eine Party?«
Meine Mutter lebt in einer Fantasiewelt. Einer Welt, in der meine Freunde und ich zu lustigen Partys eingeladen werden, um das Ende der Ferien zu feiern. Als hätte sie nie etwas von dem peinlichen Gatorade-Zwischenfall gehört. Dabei war sie DABEI, als es passierte. Im Grunde genommen ist es sogar ihre Schuld, dass ich den Becher überhaupt in der Hand hatte. Sie hatte nämlich solches Mitleid mit mir, weil sie mich zum Kieferorthopäden geschleppt hatte, um meine Spange nachziehen zu lassen, dass sie mich mit einem Becher Gatorade mit Kirschgeschmack tröstete, den ich im Auto auf dem Weg zur Schule trinken durfte. Was hat sie sich dabei gedacht? Welche verantwortungsbewusste Mutter erlaubt ihrer kleinen Tochter, die gerade mal in der sechsten Klasse ist, einen Riesenpappbecher rotes Gatorade mit zur Schule zu nehmen?
Aber das erhärtet nur die Theorie, die ich sowieso schon habe: nämlich, dass meine Eltern völlig weltfremd sind. Klar, es gibt viele Kinder, die das von ihren Eltern denken, aber in meinem Fall stimmt es wirklich. Endgültig
bewusst geworden ist mir das, als meine Mutter die ganze Familie auf eine Buchmesse nach New York mitnahm und meine Eltern das gesamte Wochenende damit verbrachten, sich abwechselnd zu verirren oder mitten im schlimmsten Verkehr über die Straße zu gehen und zu erwarten, dass die Autos anhalten, weil bei uns in Bloomville jeder Autofahrer sofort anhält, sobald jemand über die Straße geht.
Die New Yorker machen das eher nicht.
Es wäre ja nicht so tragisch gewesen, wenn wir nur zu dritt gewesen wären. Aber wir hatten meinen damals fünfjährigen Bruder Pete dabei, meine Schwester Catie, die im Buggy saß, und meinen jüngsten Bruder Robbie, der noch ein Baby war und im Snugli-Tragesack mitgeschleppt wurde (Sara war noch nicht auf der Welt). Es ging also nicht nur um mich und meine Eltern - es waren unschuldige Kleinkinder beteiligt!
Nachdem die beiden ungefähr zum fünften Mal versucht hatten, mal schnell vor einem Linienbus, der in voller Fahrt auf uns zugerast kam, die Straße zu überqueren, wurde mir klar, dass meine Eltern wahnsinnig sind, weshalb man sich ihnen unter gar keinen Umständen anvertrauen darf.
Und damals war ich erst sieben !
Diese Erkenntnis verfestigte sich, als ich in die Pubertät kam und meine Eltern zu mir sagten: »Weißt du, Schatz, wir haben noch nie eine Tochter gehabt, die in die Pubertät gekommen ist, deshalb wissen wir nicht, ob wir alles richtig machen, aber wir geben uns allergrößte Mühe.« Also wirklich. Das ist ein Satz, den man als Kind von seinen Eltern unter gar keinen Umständen hören möchte.
Man will das Gefühl haben, dass seine Eltern alles im Griff haben und ganz genau wissen, was sie tun.
Tja, meine wissen es ganz offensichtlich nicht.
Das bekam ich auch in den Sommerferien zwischen der sechsten und der siebten Klasse zu spüren, als sie mich zwangen, ins Pfadfinderinnenlager zu fahren, obwohl ich lieber zu Hause geblieben wäre und ab und zu im Laden ausgeholfen hätte. Ausflüge in die Natur sind
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