Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
eigenen Worte über die Bücher trennen und beschützen uns genauso wie die Äußerungen der anderen. Schon während wir lesen, wenn nicht schon früher, beginnen wir, erst mit uns und dann mit den anderen, über Bücher zu reden, und mit diesen Äußerungen und Meinungen haben wir es später zu tun, während wir die realen Bücher, die für immer hypothetisch geworden sind, weit von uns schieben.
∗
Bei Eco erscheint das Buch noch stärker als bei Valéry als ein willkürlicher Gegenstand, über den wir uns in genauer Form äußern, ein Gegenstand, der ständig von unseren Wunschphantasien und Illusionen überlagert wird. In einer unbegrenzten Bibliothek unauffindbar, ist der zweite Band von Aristoteles’
Poetik
das, was die meisten Werke sind, über die wir im Laufe unseres Lebens reden, ob wir sie nun gelesen haben oder nicht: ein rekonstruierter Gegenstand, dessen entferntes Vorbild hinter unserem Sprechen und dem der anderen verborgen liegt, und es wäre vergeblich zu hoffen, ihn eines Tages, selbst wenn wir dafür unser Leben opfern würden, mit dem Finger berühren zu können.
1 QB und EB ++
2 UB –
3 EB +
4 U MBERTO E CO ,
Der Name der Rose.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 1982, S. 595.
5 Ibid.
6 Ibid., S. 603.
7 Ibid., S. 601f.
8 Ibid., S. 600.
9 Ibid., S. 600
10 UB +
11 Op.cit., S. 599f.
12 Einige der Todesfälle sind nicht einmal Jorge zuzuschreiben: Einer der Mönche hat Selbstmord begangen, ein anderer wurde von einem anderen Mönch umgebracht.
13 »›Alinardus hatte mir seine Idee eingegeben, und später hörte ich, daß auch du sie einleuchtend fandest. Da sagte ich mir, daß offenkundig ein göttlicher Plan diese Todesfälle lenkte, für die ich mithin nicht verantwortlich war […].‹« (Ibid., S. 597)
14 Ibid.
15 Siehe mein Buch
Qui a tué Roger Ackroyd?,
VB +, Paris 1998
16 Freud benutzt den Ausdruck »Deckerinnerung«, um fälschliche Kindheitserinnerungen zu bezeichnen, deren Funktion es ist, andere, die für unser Bewusstein weniger akzeptabel sind, zu überdecken (S IGMUND F REUD ,
Über Deckerinnerungen
(1899), QB ++, Gesammelte Werke I, S. 536).
GESPRÄCHSSITUATIONEN
Erstes Kapitel
IM GESELLSCHAFTSLEBEN
in dem Graham Greene von einer alptraumhaften Situation erzählt, in der sich der Held einem ganzen Saal von Bewunderern gegenübersieht, die gespannt darauf warten, dass er sich zu Büchern äußert, die er nicht gelesen hat
N ACHDEM WIR DIE H AUPTTYPEN des Nichtlesens untersucht haben, die sich, wie wir gesehen haben, nicht nur auf ein reines Ausbleiben der Lektüre zurückführen lassen, sondern noch weit subtilere Formen annehmen können, möchte ich jetzt auf ein paar charakteristische Situationen zu sprechen kommen, in denen sich der Leser, oder besser der Nichtleser, gezwungen sieht, über Bücher zu sprechen, die er nicht gelesen hat. Hier können ihm die folgenden, von meinen persönlichen Erfahrungen inspirierten Überlegungen, so hoffe ich wenigstens, nützlich sein.
Ich denke da besonders an Situationen, die das gesellschaftliche Leben mit sich bringt, insbesondere an all jene sozialen Anlässe, in denen wir uns vor einer Gruppe äußern müssen. Wenn sich zum Beispiel das Gespräch auf einer Abendveranstaltung um ein Buch dreht, das wir nicht gelesen haben, und wir versuchen müssen, eine gute Figur zu machen – entweder, weil das besagte Werk jedem gebildeten Menschen bekannt sein müsste oder weil wir den Fehler begangen haben, voreilig zu sagen, wir hätten es gelesen.
Ein unangenehmer Augenblick, dem man jedoch mit etwas Geschick ohne große Mühe beikommt, zum Beispiel, indem man das Gespräch auf ein anderes Thema lenkt. Die Situation kann jedoch rasch zum Alptraum werden, wenn die Person, die über ein ungelesenes Buch sprechen muss, der Aufmerksamkeit eines größeren Publikums ausgesetzt ist, das ihre Äußerungen mit Spannung erwartet. Man muss bei diesem Fall, der eine ganze Reihe verdrängter Kindheitsängste ins Bewusstsein zurückruft, unweigerlich an Freuds sogenannten »Prüfungstraum« denken, in dem der entsetzte Träumer sich vorstellt, zu einem Examen antreten zu müssen, auf das er sich nicht vorbereitet hat.[ 1 ]
∗
Genau das passiert Rollo Martins in Graham Greenes Roman
Der dritte Mann
[ 2 ], der Carol Reed zu seinem berühmten Film inspiriert hat. Als Hauptfigur der Geschichte gelangt Martins zu Beginn des Buchs ins Nachkriegs-Wien, das in vier
Weitere Kostenlose Bücher