Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bayard
Vom Netzwerk:
die Tiv kann die bemerkte Gestalt unmöglich der verstorbene Häuptling sein:
    »›Warum war er nicht mehr ihr Häuptling?‹
    ›Er war tot‹, erklärte ich. ›Darum waren sie so durcheinander und erschrocken, als sie ihn sahen.‹
    ›Unmöglich‹, begann einer der Alten und reichte seine Pfeife an seinen Nachbarn weiter, der ihm ins Wort fiel: ›Das war auf keinen Fall der verstorbene Häuptling. Das war ein von einem Zauberer geschicktes Omen. Sprich weiter.‹«[ 2 ]
    Durch das Selbstbewusstsein ihrer Zuhörer etwas verunsichert, fährt Laura Bohannan in ihrer Erzählung fort und schildert, wie Horatio sich an Hamlets Vater wendet und ihn fragt, was zu tun sei, damit er Frieden finde, und als der Tote nicht antwortet, erklärt, der Sohn des verstorbenen Häuptlings müsse sich darum kümmern. Erneut geht ein Raunen der Missbilligung durchs Publikum, denn solche Angelegenheiten obliegen bei den Tiv nicht den Jungen, sondern den Ältesten, und der Verstorbene hat doch noch einen lebenden Bruder, Claudius:
    »Die Alten murmelten unzufrieden: Solche Omen waren Sache der Häuptlinge und Stammes ältesten, auf keinen Fall der Jungen; hinter dem Rücken eines Häuptlings kann nichts Gutes entstehen; Horatio ist kein weiser Mann.«[ 3 ]
    Laura Bohannans Verunsicherung nimmt noch zu, als sie die Antwort auf die Frage schuldig bleiben muss, ob Hamlets Vater und Claudius dieselbe Mutter haben, eine Frage, die in den Augen der Tiv grundlegend ist:
    »›Hatten Hamlets Vater und sein Onkel dieselbe Mutter?‹
    Der Sinn der Frage drang nur mit Mühe in meinen Kopf: Ich war zu verwirrt, zu sehr aus der Fassung, da ich eines der wesentlichsten Elemente aus
Hamlet
dahinschwinden sah. Ich antwortete ihnen etwas unbestimmt, dass sievermutlich dieselbe Mutter hätten, aber ich sei mir nicht sicher, denn die Geschichte sage nichts darüber aus. Der Älteste erwiderte mit ernster Stimme, auf genau diese Besonderheiten der Abstammung käme es doch an und ich solle, wenn ich wieder zu Hause sei, die Ältesten danach fragen. Er rief durch die Tür einer seiner jungen Frauen zu, sie solle ihm seinen Ziegenlederbeutel bringen.«[ 4 ]
    Darauf kommt Laura Bohannan auf Gertrude, Hamlets Mutter, zu sprechen, aber auch das geht gründlich schief. Während man in den westlichen Lesarten des Stücks an der Schnelligkeit Anstoß nimmt, mit der Gertrude nach dem Tod ihres Mannes wieder geheiratet hat, ohne eine geziemende Frist verstreichen zu lassen, sind die Tiv überrascht, dass sie so lange gewartet hat:
    »Hamlets Sohn war sehr traurig, dass seine Mutter so schnell wieder geheiratet hat. Es gab überhaupt keinen Grund dazu, und bei uns ist es Brauch, dass eine Witwe keinen anderen Mann nimmt, bevor sie nicht zwei Jahre lang Trauer getragen hat.‹
    ›Zwei Jahre, das ist zu lang‹, warf die Frau ein, die gerade mit dem zerknautschten Ziegenlederbeutel des Dorfältesten auftauchte. ›Wer hackt dein Feld für dich während der Zeit, in der du keinen Mann hast?‹
    ›Hamlet‹, entgegnete ich ohne nachzudenken, ›war groß genug, um selbst das Feld seiner Mutter zu hacken.Sie brauchte nicht zu heiraten.‹ Niemand schien überzeugt. Ich gab auf.«[ 5 ]
    ∗
    Hat Laura Bohannan schon Mühe, den Tiv Hamlets Familiensituation zu erklären, so wird es geradezu aussichtslos, ihnen die wichtige Rolle begreiflich zu machen, die in Shakespeares Stück und in der Gesellschaft, die es hervorgebracht hat, die Geister einnehmen:
    »Ich beschloss, den Monolog zu überspringen. Selbst wenn man es hier für richtig hält, dass Claudius die Witwe seines Bruders geheiratet hat, so blieb noch immer das Giftmotiv, und ich war mir sicher, dass sie den Brudermord nicht billigen würden. Ich schöpfte wieder etwas Hoffnung und fuhr fort: ›In jener Nacht hielt Hamlet Wache mit den drei Männern, die seinen Vater tot gesehen hatten. Der verstorbene Häuptling erschien wieder, und während seine Begleiter erschraken, löste sich Hamlet von der Gruppe und folgte seinem verstorbenen Vater. Als sie allein waren, ergriff der Tote das Wort.‹
    »›Omen können nicht reden!‹ Der Älteste klang sehr bestimmt.
    »›Hamlets toter Vater war kein Omen. Sie hätten ein Omen sehen können, er aber war keins.‹ Meine Zuhörer sahen genauso verwirrt aus, wie ich es beim Reden war. ›Es war
wirklich
Hamlets toter Vater. Es war das, was wir einen ›Geist‹ nennen.‹«[ 6 ]
    So überraschend es auch scheinen mag, die Tiv glauben nicht an Geister, wie sie uns vertraut

Weitere Kostenlose Bücher