Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Gespenstergeschichte zu glauben, so nähern sich die Tiv damit einem zwar minoritären, doch durchaus aktiven Zweig der Shakespeare-Kritik an, der ebenfalls an der Erscheinung von Hamlets Vater zweifelt und die These vertritt, der Held sei möglicherweise Halluzinationen zum Opfer gefallen.[ 11 ] Eine nonkontormisische Kritik, die es aber immerhin verdient, untersucht zuwerden, und die hier noch gestützt wird durch die Tatsache, dass die Tiv das Stück nicht kennen. Den Text nicht zu kennen – und das in doppelter Hinsicht – ermöglicht ihnen paradoxerweise einen unmittelbareren Zugang, zwar nicht zu irgendeiner im Werk versteckten Wahrheit, aber zu einem der vielen Schätze, die in ihm angelegt sind.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass meine Studenten in der eingangs geschilderten Situation sehr schnell imstande sind, von einem Buch, das ich kommentiere und das sie nicht gelesen haben, gewisse Elemente zu erfassen, und keine Hemmungen haben, sich – ausgehend von ihren kulturellen Vorstellungen und ihrer persönlichen Lebensgeschichte – in die Diskussion einzuschalten. Und dass sie mit ihren Beiträgen – so weit sie auch vom Ausgangstext entfernt sein mögen (was aber würde hier Nähe eigentlich bedeuten?) – eine Originalität in die Begegnung mit dem Buch einbringen, zu der sie wahrscheinlich nicht fähig wären, wenn sie es gelesen hätten.
1 QB und EB ++
2 L AURA B OHANNAN ,
Shakespeare in the Bush,
QB +, in: Natural History, 75, Aug./Sept. 1966, S. 28–33
3 Ibid.
4 Ibid.
5 Ibid.
6 Ibid.
7 Ibid.
8 Ibid.
9 Als zweites der drei in diesem Essay untersuchten »Bücher« beeinflusst das
innere Buch
sämtliche Verwandlungen, die wir an Büchern vornehmen, um sie zu
Deckbüchern
zu machen. Der Ausdruck »inneres Buch« wird auch von Proust verwandt, mit einer Bedeutung, die meiner sehr nahe kommt: »Was das innere Buch der unbekannten Zeichen betraf (offenbar gleichsam erhaben hervortretender Zeichen, denen meine Aufmerksamkeit bei der Erforschung meines Unbewussten nachspürte, an die sie anstieß, die sie umkreiste, wie ein Taucher mit seiner Sonde), bei deren Lektüre niemand mir mit irgendwelchen Regeln helfen konnte, so bestand diese Lektüre in einem Schöpfungsakt, bei dem kein anderer uns ersetzen oder auch nur mit uns zusammenwirken kann. […] Dieses Buch, das für uns mühsamer zu entziffern ist als jedes andere, ist auch das einzige, dessen Zeichen die Wirklichkeit selbst in uns eindrückt oder – druckt.« (M ARCEL P ROUST ,
Die wiedergefundene Zeit.
QB und EB ++, Werke, Band 7. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, hg. von Luzius Keller, Frankfurt a.M. 2004, S. 277)
10 op.cit.
11 Siehe
Enquête sur Hamlet,
op.cit.
Drittes Kapitel
DEM SCHRIFTSTELLER GEGENÜBER
in dem Pierre Siniac zeigt, dass man seine Worte einem Schriftsteller gegenüber abwägen sollte, vor allem, wenn dieser das Buch, dessen Autor er ist, nicht gelesen hat.
E S GIBT NOCH S CHLIMMERES , als sich vor einem Lehrer wiederzufinden, der seinem Gegenstand nicht unbedingt gewachsen ist: mit derjenigen Person konfrontiert zu werden, die im Prinzip am meisten Interesse an Ihrer Meinung zu dem Buch hat und gleichzeitig am besten einschätzen kann, ob Sie die Wahrheit sagen oder nicht, nämlich mit dem Autor des Buches selbst, von dem man im Allgemeinen annimmt, dass er das Buch gelesen hat.
Manche werden denken, man müsse schon ein verfluchtes Pech haben, um in eine solche Situation zu geraten, da man schließlich ein ganzes Leben als Nichtleser verbringen kann, ohne einem einzigen Schriftsteller zu begegnen, und erst recht – ein auf den ersten Blick außergewöhnlicher Fall – dem Autor eines Buches, das man nicht gelesen, von dem man aber genau das behauptet hat.
Das aber hängt ganz vom beruflichen Umfeld ab, mit dem man zu tun hat. Literaturkritiker zum Beispiel kommen oft in die Verlegenheit, Schriftsteller zu treffen, umso mehr, als sich die beiden Tätigkeiten überschneiden. Und die Enge des Milieus, in dem sich sowohl die einen wie die anderen, dieoft miteinander identisch sind, bewegen, lässt ihnen meist kaum eine andere Wahl, als bei einem Kommentar zu einem Buch nur das Beste zu sagen.
Dasselbe trifft zu meinem Unglück auch für Universitätslehrer zu. Tatsächlich gibt es unter meinen Kollegen kaum jemanden, der nicht publiziert und sich nicht verpflichtet fühlt, mir seine Bücher zu schicken. So gerate ich alle Jahre
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