Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
ermöglichen, das ihnen, durch ein anderes Prisma, von Shakespeares Stück geboten wird.
Da die Tiv gar nicht über das Stück diskutieren, das Laura Bohannan mit ihnen besprechen möchte, brauchen sie auch keinen direkten Zugang zu ihm. Die wenigen Informationen, die ihnen die Anthropologin im Lauf der Erzählung gibt, genügen bei Weitem, um sich in die Diskussion zwischen denbeiden inneren Büchern einbringen zu können, eine Diskussion, bei der Shakespeares Stück beiden Seiten vor allem als Anregung dient.
Und da sie sich hauptsächlich über ihr inneres Buch unterhalten, können sie genauso gut wie meine Studenten unter vergleichbaren Umständen schon zu Shakespeare Stellung nehmen, bevor sie das Werk kennengelernt haben, das sowieso nur dazu bestimmt ist, mit der durch das innere Buch bestimmten Reflexion zu verschmelzen und sich in ihr aufzulösen.
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Im Fall der Tiv ist das innere Buch eher kollektiver als individueller Natur. Es setzt sich aus den grundlegenden Vorstellungen einer Kultur zusammen, welche die gemeinsamen Auffassungen über die familiären Beziehungen und das Jenseits, aber auch über das Lesen und den Umgang mit einem Buch zum Ausdruck bringen, zum Beispiel, wie die Grenze zwischen Imagination und Wirklichkeit überwunden werden soll.
Wir wissen nichts über die einzelnen Tiv – außer vom Dorfältesten –, auch wenn es wahrscheinlich ist, dass der Gruppenzusammenhalt dazu beiträgt, die einzelnen Reaktionen zu vereinheitlichen. Doch wenn für jede Kultur ein kollektives inneres Buch existiert, so existiert auch für jeden Einzelnen ein individuelles inneres Buch, das bei der Rezeption, das heißt bei der Konstruktion kultureller Themen, genauso, wenn nicht noch aktiver beteiligt ist als das kollektive Buch.
Aus Wunschphantasien und persönlichen Legenden bestehend,beeinflusst das individuelle innere Buch unseren Wunsch nach Lektüre, das heißt die Art und Weise, wie wir Bücher auswählen und lesen. Es ist dieses Produkt unserer Phantasmen, nach dem jeder Leser sucht und von dem die besten Bücher, denen er in seinem Leben begegnet, immer nur unvollkommene Fragmente sind, die ihn zum Weiterlesen animieren.
Man kann sich auch vorstellen, dass die Arbeit eines Schriftstellers darin besteht, nach seinem inneren Buch zu suchen und ihm Gestalt zu geben, während ihn die Bücher, denen er begegnet, stets unbefriedigt lassen, die eigenen eingeschlossen, so gelungen sie auch sein mögen. Denn wie kann man zu schreiben anfangen und immer weiter schreiben ohne dieses Idealbild des vollkommenen – das heißt mit sich selbst konformen – Buches, nach dem man ohne Ende sucht, dem man sich annähert, ohne es je erreichen zu können?
Wie die kollektiven inneren Bücher bilden auch die individuellen ein Rezeptionssystem für andere Texte und haben ein Wort dabei mitzureden, wie Bücher von uns aufgenommen und umgestaltet werden. Insofern bilden sie ein Raster für die Lektüre der Welt und besonders der Bücher, deren Entdeckung sie organisieren, während sie uns gleichzeitig die Illusion von Transparenz vorgaukeln.
Es sind die inneren Bücher, die den Austausch über unsere Lektüren so schwierig machen, weil sie verhindern, dass sich ein einheitlicher Gesprächsgegenstand herausbildet. Sie gehören zu dem, was ich in meinem Buch über
Hamlet das innere Paradigma
genannt habe, das heißt ein Wahrnehmungssystem der Wirklichkeit, das so einzigartig ist, dasszwei Paradigmen unmöglich in eine echte Kommunikation miteinander treten können.[ 10 ]
Die Existenz des inneren Buches ist, gemeinsam mit dem Ent-Lesen, das, was den Diskussionsraum über die Bücher so uneinheitlich und heterogen macht. Was wir für gelesene Bücher halten, ist ein bunter Haufen von Textfragmenten, verformt durch unsere Imagination, ohne Beziehung zu den Büchern der anderen, wenn sie auch materiell mit denen identisch sein mögen, die wir in der Hand gehabt haben.
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Dass die Tiv zumindest in Ansätzen die Lesart eines Buches vorlegen, das sie nicht gelesen haben, darf weder zur Annahme verleiten, dass ihre Lektüre karikaturistisch – sie akzentuiert höchstens die typischen Merkmale jeder Lektüre –, noch dass sie ohne Interesse sei. Die Tiv befinden sich ganz im Gegenteil durch diese doppelte Außenseiterposition in Bezug auf Shakespeare – sie haben ihn nicht gelesen und stammen aus einer anderen Kultur – in einer privilegierten Lage, um sich zum Text zu äußern.
Wenn sie sich weigern, an diese
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