Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
sind, die in ihrer Kultur jedoch keinen Platz haben:
»Ich musste das englische Wort ›ghost‹ verwenden, denn im Unterschied zu vielen Nachbarstämmen glaubten diese Menschen in keiner Form an ein Weiterleben nach dem Tod.
›Was ist ein ›ghost‹? Ein Omen?‹
›Nein, ein ›ghost‹ ist jemand, der gestorben ist, aber herumgeht und mit uns spricht, man kann ihn hören und sehen, aber nicht berühren.‹
Sie erwiderten: ›Zombis kann man berühren.‹
›Nein, nein! Es war keine dieser Leichen, die die Zauberer wiederbeleben, um sie zu opfern und zu essen. Niemand führte Hamlets Vater. Er ging ganz allein.««[ 7 ]
Was die Sache nicht besser machte, denn die neugierigen Tiv sind rationaler als die Angelsachsen und weisen diese Vorstellung von herumspazierenden Toten zurück:
»Tote können nicht gehen‹, protestierte mein Publikum einstimmig.
Ich war zu einem Kompromiss bereit: ›Ein ›ghost‹ ist der Schatten eines Toten.‹
Aber sie hatten immer noch Einwände: ›Tote haben keinen Schatten.‹
›In meinem Land haben sie eben einen‹, versetzte ich kühl.
Der Älteste beendete das ungläubige Gemurmel, das sich sofort erhoben hatte, und stimmte mir mit diesem aufgesetzt höflichen Ton zu, mit dem man gewöhnlich auf die Hirngespinste abergläubischer Grünschnäbel reagiert: Wahrscheinlich können in deinem Land die Toten auch gehen, wenn sie keine Zombis sind.‹ Er kramte aus den Tiefen seines Beutels ein Stück einer getrockneten Colanuss hervor, biss eine Ecke davon ab, um zu zeigen, dass sie nicht giftig war, und reichte mir den Rest als Zeichen der Versöhnung.«[ 8 ]
Und so geht die Erzählung ihren Gang, ohne dass es Laura Bohannan, trotz aller Zugeständnisse, zu denen sie bereit ist, gelingt, die kulturelle Distanz zu den Tiv zu überbrücken und mit ihnen auf der Grundlage von Shakespeares Stück zu einer halbwegs gemeinsamen Verständigungsbasis zu finden.
∗
Obwohl die Tiv noch nie eine Zeile von
Hamlet
gelesen haben, können sie sich also eine ziemlich genaue Vorstellung über das Stück machen und sind ebenso gut wie meine Studenten, die den Text, über den ich meine Vorlesung halte, nicht besser kennen, in der Lage und vor allem begierig, darüber zu diskutieren und ihre Meinung kundzutun.
Wenn die Tiv ihre Vorstellungen über das Stück eindringlich zum Ausdruck bringen, so bedeutet das nicht, dasssie sich diese während oder nach dem Erzählen bilden; sie könnten notfalls sogar ganz auf den Text verzichten. Vielmehr gehen sie der Lektüre voraus, da sie Teil einer umfassenden Weltanschauung sind, in der das Buch Aufnahme findet und seinen Platz zugewiesen bekommt.
Nicht das Buch selbst übrigens, sondern die Fragmente, die an seine Stelle treten und von denen in einem Gespräch oder Text immer die Rede ist. Die Tiv sprechen von einem imaginären
Hamlet,
ohne dass jener Laura Bohannans – die sich doch eigentlich besser mit Shakespeares Stück auskennt – realer wäre, da auch der ihre in einem strukturierten Vorstellungsrahmen verankert ist.
Ich möchte vorschlagen, diese Einheit aus – kollektiven oder individuellen – mythischen Vorstellungen, die sich zwischen den Leser und alles neu Geschriebene schiebt und die Lektüre unwillkürlich beeinflusst,
das innere Buch
zu nennen. Dieses imaginäre Buch übernimmt eine weitgehend unbewusste Filterfunktion und ist bei der Aufnahme von neuen Texten entscheidend, weil es bestimmt, welche seiner Elemente im Gedächtnis behalten und wie sie interpretiert werden.[ 9 ]
Als ideales inneres Objekt umfasst dieses Buch – wie man bei den Tiv sehr gut sehen kann – eine oder mehrerelegendäre Geschichten, die für ihre Besitzer von wesentlichem Interesse sind, insbesondere, weil sie ihnen von der Geburt und den letzten Dingen berichten. Im Fall des kollektiven inneren Buches, dem sich die Tiv verbunden fühlen, gerät Laura Bohannans Shakespeare-Lektüre in Konflikt mit den darin enthaltenen Theorien über die Herkunft und das Überleben, die den Gruppenzusammenhalt garantieren.
Es ist also nicht die Geschichte von
Hamlet,
die sie hören, sondern das, was in dieser Geschichte mit ihren Vorstellungen über die Familie und den Status der Toten vereinbar ist und ihnen Trost bringen kann. Und wo das Buch und ihre Erwartungen unvereinbar sind, werden die bedrohlichen Stellen einfach ignoriert oder umgewandelt, um eine möglichst große Übereinstimmung zwischen ihrem inneren Buch und
Hamlet oder
eher mit dem Bild zu
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