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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bayard
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und kennen, bezieht sich die Diskussion, wie wir am Beispiel von Umberto Eco gesehen haben, weniger auf das Buch selbst als auf einen fragmentarischen und neu geschaffenen Gegenstand, ein persönliches Deckbuch, das zu denen der anderen Leser in keiner Beziehung steht und daher nur wenig Chancen hat, mit ihnen übereinzustimmen.
    Doch hier geht es um weit mehr als nur um ein einzelnes Buch. Das Aneinandervorbeireden hat nicht nur mit der Gegensätzlichkeit der beiden Autoren zu tun, über die Martins spricht, sondern auch mit der Tatsache, dass die beiden anwesenden Parteien auf der Grundlage zweier unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Buchkomplexe, oder wenn man so will, Bibliotheken zu diskutieren versuchen. Es geht nicht einfach um zwei Bücher, sondern um ganze Listen unvereinbarer Namen (Dexter und Dexter, Grey und Gray), die aufgrund des großen Unterschieds oder gar der Unversöhnlichkeit der beiden miteinander konfrontierten Lesekulturen nicht in Einklang gebracht werden können.
    Man könnte diese Gesamtheit von Büchern, auf der sich eine Persönlichkeit erst bildet und die dann ihre Beziehung zu den Texten und zu anderen organisiert, als
innere Bibliothek
[ 16 ] bezeichnen – eine Untereinheit der kollektiven Bibliothek, die wir alle bewohnen. Eine Bibliothek, in der natürlichauch bestimmte Titel vorkommen, die aber, wie die Montaignes, vor allem aus Fragmenten vergessener und imaginärer Bücher besteht, durch die wir die Welt erfassen.
    Das Aneinandervorbeireden rührt in unserem Fall daher, dass die diversen inneren Bibliotheken des Publikums und die Martins’ nicht oder nur bedingt miteinander übereinstimmen und ihre Berührungsflächen sehr gering sind. Die Diskussion beschränkt sich nicht auf ein Buch, auch wenn bestimmte Titel zur Sprache kommen, sondern bezieht sich im weiteren Sinne auf die Begriffe Buch und Literatur selbst. Das ist der Grund, warum die involvierten Bibliotheken nur schwer miteinander in Kommunikation treten können und alle Versuche dazu unweigerlich zu Spannungen führen müssen.
    ∗
    So sprechen wir nie nur über ein Buch miteinander, sondern immer zugleich über eine ganze Reihe von Büchern, die sich bei der Nennung eines bestimmten Titels in den Diskurs einbringen, da jeder stets auf einen ganzen Kulturbegriff verweist, dessen zeitweiliges Symbol er ist. In jedem Moment unseres Gesprächsaustauschs treten die inneren Bibliotheken, die wir uns im Laufe der Jahre aufgebaut, in denen wir unsere geheimen Bücher abgelegt haben, in Beziehung zu denen der anderen, was natürlich die Gefahr von Reibungen und Konflikten mit sich bringt.
    Denn wir nehmen diese Bibliotheken nicht nur in uns auf, wir
sind
die Gesamtheit all dieser angesammelten Bücher, die uns nach und nach zu dem gemacht haben, was wir sind, und die nicht mehr schmerzlos von uns getrennt werden können.Und genauso wie Martins die Kritik an den Romanen seiner Meister nicht erträgt, verletzen uns Worte, die an die Bücher unserer inneren Bibliothek rühren, manchmal im Tiefsten unserer selbst, weil sie etwas angreifen, das Teil unserer Identität geworden ist.
     
     
     
       1 »Jeder, der mit der Maturitätsprüfung seine Gymnasialstudien abgeschlossen hat, klagt über die Hartnäckigkeit, mit welcher der Angsttraum, daß er durchgefallen sei, die Klasse wiederholen müsse u. dgl., ihn verfolgt. Für den Besitzer eines akademischen Grades ersetzt sich dieser typische Traum durch einen anderen, der ihm vorhält, daß er beim Rigorosum nicht bestanden habe, und gegen den er vergeblich noch im Schlaf einwendet, daß er ja schon seit Jahren praktiziere, Privatdozent sei oder Kanzleileiter. Es sind die unauslöschlichen Erinnerungen an die Strafen, die wir in der Kindheit für verübte Untaten erlitten haben, die sich so an den beiden Knotenpunkten unserer Studien, an dem
›dies irae, dies illa
‹ der strengen Prüfungen in unserem Inneren wieder geregt haben.« (S IGMUND F REUD ,
Die Traumdeutung
(1900), VB ++, Gesammelte Werke II/III, S. 280)
       2 QB ++
       3 UB ++
       4 UB —
       5 G RAHAM G REENE ,
Der dritte Mann.
Aus dem Englischen von Fritz Burger und Käthe Springer, Wien 1994, S.81
       6 Ibid., S.83
       7 UB ++
       8 Ibid., S. 8l
       9 Ibid., S. 81f.
    10 Ibid. S. 82
    11 Ibid.
    12 Ibid.
    13 Ibid., S. 82f.
    14 Auf seinem Flug nach Wien macht Martins in Frankfurt Station, wo er ebenfalls mit dem anderen Dexter verwechselt wird, und schon dort werden seine offenen Antworten als Humor

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