Wie soll ich leben?
weiter zu gehen als bis zu dem, was ich für richtig erachte? Wie schaffe ich es, meine Seele nicht zu verlieren? Vor allem aber: Wie bleibe ich frei? Montaigne war kein Freiheitskämpfer im herkömmlichen Sinn, räumt Zweig ein. «Er hat nichts von den rollenden Tiraden und dem schönen Schwung eines Schiller oder Lord Byron, nichts von der Aggressivität eines Voltaire.» Seine ständigen Beteuerungen, er sei faul, unnütz und verantwortungslos, machen ihn zum Heldentum untauglich, aber es sind in Wahrheit gar keine Unzulänglichkeiten, sondern eben die Eigenschaften, die man braucht, um sein innerstes Ich zu retten.
Zweig wusste, wie sehr Montaigne jeglicher Predigtton fernlag, doch er entnahm den Essais eine Reihe von Grundregeln, die er in einer «Tabelle» zusammenstellte:
Freisein von Eitelkeit und Stolz, dies vielleicht das Schwerste.
Freisein von Furcht und Hoffnung, Glauben und Aberglauben.
Frei sein von Überzeugungen und Parteien.
Freisein von Gewohnheiten.
Frei von Ambitionen und jeder Form von Gier.
Frei von Familie und Umgebung.
Frei von Fanatismus.
Frei sein vom Schicksal. Wir sind seine Herren.
Und die letzte Freiheit: vom Tode. Das Leben hängt vom Willen anderer ab, der Tod von unserem Willen.
Zweig suchte den Stoiker in Montaigne und kehrte zu einer Lesart zurück, die der des 16. Jahrhunderts entsprach. Die Freiheit aber, die sich Zweig am meisten zu Herzen nahm, war die letzte auf seiner Liste. Und sie entstammte unmittelbar Seneca. In tiefer Niedergeschlagenheit wählte Zweig die ultimative Form der inneren Emigration: den Freitod. Am 23. Februar 1942 nahm er eine Überdosis Veronal; seine Frau ging mit ihm in den Tod. In seinem Abschiedsbrief heißt es, er möchte «diesem wundervollen Land Brasilien innig […] danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben […]. Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.»
Es scheint – und so hat Stefan Zweig es selbst gesehen –, dass nur derjenige den wahren Wert Montaignes erkennen kann, der selbst eine Grenzsituation erlebt und einen Punkt erreicht hat, «wo man schließlich nurmehr sein nacktes Ich, seine einmalige und unwiederbringliche Existenz verteidigt».
Nur wer in der eigenen erschütterten Seele eine Zeit durchleben muss, die mit Krieg, Gewalt und tyrannischen Ideologien dem Einzelnen das Leben und innerhalb seines Lebens wieder die kostbare Substanz, die individuelle Freiheit, bedroht, nur der weiß, wie viel Mut, wie viel Ehrlichkeit und Entschlossenheit vonnöten sind, in solchen Zeiten der Herdentollheit seinem innersten Ich treu zu bleiben.
Er hätte Leonard Woolf zugestimmt, der sagte, Montaignes Sicht der miteinander verbundenen «Ichs» sei ein Wesensmerkmal von Zivilisation. Dies war das Fundament, auf das eine Zukunft aufgebaut werden konnte, sobald Terror und Krieg vorüber waren. Stefan Zweig hatte nicht so lange warten können.
Besitzt Montaignes Verständnis von persönlicher Integrität und politischer Hoffnung heute noch eine moralische Autorität? Einige würden dies bejahen. Sie riefen Montaigne zu einem Helden für das 21. Jahrhundert aus. Der französische Journalist Joseph Macé-Scaron etwa schlug vor, Montaigne als «Gegenmittel» gegen die neuen Religionskriege heranzuziehen. Andere werden widersprechen und sagen, die Empfehlung, die Probleme entspannt anzugehen und sich auf sich selbst zurückzuziehen, sei das Letzte, was wir in der heutigen Zeit brauchen, in der wir uns ohnehin der zivilgesellschaftlichen Verantwortung entzogen hätten.
Wer Montaigne als seinen Heros oder als einen hilfreichen Begleiter betrachtet, wird ihm gewiss keine indifferente Haltung gegenüber sozialen Verpflichtungen unterstellen. Die Rettung einer aus den Fugen geratenen Welt lag für Montaigne im Bemühen des Einzelnen, wieder in geordnete Bahnen zurückzufinden und zu lernen, «wie man leben soll» – angefangen mit dem Bemühen, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. In der Tat findet sich bei Montaigne die Botschaft der Inaktivität, der Faulheit und des Nichtengagements – und womöglich lässt sich daraus auch die Rechtfertigung ableiten, untätig zu bleiben, wenn der Tyrann die Herrschaft übernimmt. Doch viele Passagen der Essais fordern eher dazu auf, eine Zukunft ins Auge zu fassen und sich nicht von der realen geschichtlichen Welt abzuwenden, um von einem Paradies und von religiöser
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