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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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‹Considérations sur Cicero› an?» Selbst wenn Montaigne interessantere Themen behandelte wie Sex und Politik, fühlte sich Zweig nicht von dessen «milder, temperierter Weisheit» und seinem Ratschlag angesprochen, «sich nicht allzu leidenschaftlich in die äußere Welt [zu] verstricken». Es liege, schrieb Zweig, «im Wesen der Jugend, dass sie nicht zu Milde, zur Skepsis beraten zu sein wünscht. Jeder Zweifel wird ihr zur Hemmung, weil sie Gläubigkeit und Ideale braucht zur Auslösung ihrer inneren Stoßkraft.» Junge Menschen sehnen sich nach etwas, an das sie glauben können, sie wollen befeuert werden.
    Zudem schien um 1900 die Freiheit des Individuums keiner Verteidigung mehr zu bedürfen. «War das alles denn nicht schon längst Selbstverständlichkeit geworden, durch Gesetz und Sitte garantierter Besitz einer längst von Diktatur und Knechtschaft emanzipierten Menschheit?» Zweigs Generation – er ist 1881 geboren – ging davon aus, dass Wohlstand und individuelle Freiheit immer weiter zunahmen.Warum sollte es einen Rückschritt geben? Niemand hatte das Gefühl, die Zivilisation sei bedroht, niemand musste sich auf sich selbst zurückziehen, um seine innere Freiheit zu bewahren. «So schien Montaigne unserer Generation sinnlos an Ketten zu rütteln, die wir längst zerbrochen meinten.»
    Doch es kam anders. Wie Montaigne wuchs auch Stefan Zweig in einer hoffnungsvollen, glücklichen Epoche auf, um am Ende deren völligen Zusammenbruch zu erleben. Es wurden neue Ketten geschmiedet, die fester und schwerer waren als zuvor.
    Zweig überlebte den Ersten Weltkrieg, doch dann kam der Aufstieg Hitlers. Zweig musste aus Österreich fliehen und wurde zum Heimatlosen, zuerst in Großbritannien, dann in den Vereinigten Staaten und schließlich in Brasilien. Sein Exil machte ihn «wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke», wie er es in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern formulierte. Er fühlte sich wie ein Verurteilter in seiner Zelle, der auf seine Hinrichtung wartet, zunehmend unfähig, sich in dem Land zurechtzufinden, das ihn aufgenommen hatte. Um nicht den Verstand zu verlieren, stürzte er sich in die Arbeit. Im Exil schrieb er eine zweibändige Darstellung Balzacs und seines Werks, mehrere Novellen und schließlich den Aufsatz über Montaigne – fast ohne Quellen und Aufzeichnungen, denn er hatte seinen ganzen Besitz verloren. Montaignes innere Leichtigkeit war Stefan Zweig nicht gegeben, aber seine Lebenssituation war auch ungleich dramatischer:
    So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege. Wider meinen Willen bin ich Zeuge geworden der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphs der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten.
    Bei seiner Ankunft in Brasilien 1941 war er weit entfernt von dem Gefühl, endlich eine Heimat gefunden zu haben, und obwohl er dem Land dankbar war für seine Gastfreundschaft, blieb er der Verzweiflung nahe. In dem Haus, in dem er wohnte, fand sich ein Band mit den Essais , und er las das Buch ein zweites Mal. Einst eine langweilige undnichtssagende Lektüre, sprach es ihn jetzt unmittelbar an, als sei es direkt für ihn oder zumindest für die Menschen seiner Generation geschrieben. Sofort kam ihm die Idee, über Montaigne zu schreiben. Im Brief an einen Freund heißt es: «Dazwischen halte ich mich an Montaigne, der in einer genau so dreckigen Zeit wie der unseren versucht hat, unabhängig zu bleiben und auch unter der Gasmaske klar zu denken.» Und in dem Montaigne-Aufsatz gesteht er: «Erst in dieser Bruderschaft des Schicksals ist mir Montaigne der unentbehrliche Helfer, Tröster und Freund geworden, denn wie verzweifelt ähnlich ist sein Schicksal dem unseren!»
    Sein Montaigne-Essay wurde letztlich doch eine Art Biographie, aber eine sehr persönliche, die unapologetisch die Ähnlichkeiten zwischen Montaignes Epoche und seiner eigenen aufzeigte. In Zeiten wie dem Zweiten Weltkrieg oder den Bürgerkriegen in Frankreich, schreibt Zweig, fällt das Leben des Einzelnen der Besessenheit von Fanatikern zum Opfer. Und dann lautet die Frage nicht: Wie kann ich überleben?, sondern: Wie bewahre ich mir «die Humanität des Herzens»? Oder anders gesagt: Wie bewahre ich mir mein innerstes Selbst? Wie schaffe ich es, in dem, was ich sage und tue, nicht

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