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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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große Bild unserer Mutter Natur in ihrer vollen Majestät vor Augen hält, wer in ihrem Antlitz ihren unendlichen, sich ständig wandelnden Formenreichtum liest, wer sich darin, und nicht nur sich, sondern ein ganzes Königreich als winzigen Strich entdeckt, wie von der Spitze des feinen Pinsels hingesetzt: der allein schätzt die Dinge nach ihrer wahren Größe ein.
    Montaigne rief seinen Zeitgenossen die Lektion der antiken Stoiker in Erinnerung, sich von einer schwierigen Situation nicht überwältigen zu lassen, sondern zu versuchen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu gewichten. Die Stoiker blickten auf ihre Probleme herab wie auf das Gewimmel eines Ameisenhaufens. Astrologen prophezeiten derzeit zwar «große und nahe Veränderungen und Umwälzungen», schreibt Montaigne, vergaßen dabei aber die schlichte Tatsache, dass das Leben weiterging. «Ich jedenfalls überlasse mich keineswegs der Verzweiflung», fügte er beiläufig hinzu.
    Zugegebenermaßen hatte Montaigne Glück. Durch den Kriegwurden zwar seine Ernten zerstört, er fürchtete, in seinem Bett ermordet zu werden, und er wurde zu politischer Tätigkeit gezwungen, der er sich lieber entzogen hätte; und in den 1580er Jahren, als der Krieg in seine letzte und gewalttätigste Phase trat, wurde alles noch schlimmer. Man kann jedoch nicht behaupten, dass ihn diese Erfahrungen für sein Leben zeichneten. Falls er jemals selbst zur Waffe gegriffen hat, verschweigt er es in den Essais .
    Montaigne hatte recht. Das Leben ging weiter. Die blutigen Massaker der Bartholomäusnacht waren nicht die Vorboten des Weltuntergangs, wohl aber der Auftakt zu langen Jahren des Leids und der Not zahlloser Menschen. Generation folgte auf Generation, bis viele kaum noch wussten, dass in ihrem Jahrhundert solche Kriege überhaupt stattgefunden hatten. Montaigne und andere politiques hatten dazu beigetragen, der Vernunft wieder Geltung zu verschaffen. Mit seinem Beharren auf Mäßigung und Gelassenheit diente er der Rettung des Landes weit mehr als die fanatischen Glaubenseiferer unter seinen Zeitgenossen. Zwar engagierte er sich zeitweilig auch unmittelbar politisch, sein größter Beitrag aber lag darin, dass er sich heraushielt und die Essais schrieb. Dadurch wurde er für viele zur Leitfigur.
Ein Held
    Wer Montaigne diese Rolle zuschrieb, sah in ihm einen Helden der ungewöhnlichen Art, dem jeder Heroismus fremd war. Selten bewunderte man ihn wegen seiner großen öffentlichen Verdienste, auch wenn er in späteren Jahren einige bemerkenswerte Dinge tat. Häufiger betrachtete man sein Beharren auf Normalität auch unter außergewöhnlichen Umständen als vorbildlich, ebenso die Weigerung, seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben.
    Viele seiner Zeitgenossen sahen ihn in diesem Licht. Der große politische Denker und stoische Philosoph Justus Lipsius ermunterte ihn weiterzuschreiben, um anderen ein gutes Beispiel zu geben. Über all die Jahrhunderte hinweg nahmen sich Leser in unruhigen Zeiten Montaigne, den Stoiker des 16. Jahrhunderts, zum Vorbild. Seine Essais enthielten praktische Weisheiten zu der Frage, wie man Einschüchterungenentgegentreten, wie man Offenheit mit dem Bedürfnis nach Sicherheit in Einklang bringen konnte oder wie man sich in einem grausamen Krieg seine Selbstachtung und Menschlichkeit bewahrte. Diese Botschaft Montaignes sprach ganz besonders Leser des 20. Jahrhunderts an, die zwei Weltkriege und faschistische wie kommunistische Diktaturen erlebten. Dem Gefühl der Verzweiflung angesichts des drohenden Untergangs der zivilisierten Gesellschaft setzte Montaigne die Zuversicht entgegen, dass am Ende die Normalität wiederkehren und sich die Perspektive erneut verschieben werde.
    Zu diesen Lesern Montaignes zählte Stefan Zweig, der im Zweiten Weltkrieg im erzwungenen Exil in Südamerika lebte und dort einen langen, sehr persönlichen Aufsatz über Montaigne verfasste, seinen unheldenhaften Helden.
    Als Zweig mit zwanzig Jahren im Wien der Jahrhundertwende die Essais zum ersten Mal zur Hand nahm, wusste er nicht viel damit anzufangen. Wie Lamartine und George Sand fehlte auch ihm die «innere Zündung der leidenschaftlichen Begeisterung, das elektrische Überspringen von Seele zu Seele». Er entdeckte keinen Bezug zu seinem eigenen Leben. «Was gingen mich jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts die weiträumigen Exkurse des Sieur de Montaigne über die ‹Cérémonie de l’entrevue des rois› oder seine

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