Wie soll ich leben?
Transzendenz zu träumen. Montaigne ermutigt zu gegenseitigem Respekt, zum Verzicht auf das Töten unter dem Deckmäntelchen der Gottgefälligkeit und dazu, jenem Drang zu widerstehen, der die Menschen immer wieder ihrer Zerstörungswut überlässt und «das Leben auf seine Anfänge» zurückwirft. Wie Flaubert seiner Freundin empfahl: «Lesen Sie Montaigne […]. Er wird Sie beruhigen.» Aber er fügte auch hinzu: «Lesen Sie, um zu leben!»
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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Tu etwas, was noch nie zuvor jemand getan hat!
Ein barocker Bestseller
In den 1570er Jahren, während sich blutige Kriege mit kurzen Friedenszeiten abwechselten, schrieb Montaigne weiter. Das Leben ging seinen Gang. Fast das ganze Jahrzehnt hindurch arbeitete er an den ersten beiden Büchern der Essais , die 1580 bei dem Verleger Simon Millanges in Bordeaux veröffentlicht wurden.
Millanges war eine interessante Wahl. Er hatte sich erst wenige Jahren zuvor in Bordeaux niedergelassen, etwa zu der Zeit, als Montaigne mit den Essais begonnen hatte. Montaigne hätte gewiss auch problemlos Verleger in Paris gefunden. Er verfügte über Kontakte zu ihnen, und die Bedeutung seines Werks wäre ihnen sicher nicht entgangen. Schon die erste Ausgabe zeigte, dass es ein außergewöhnliches Werk war, obwohl es sich durchaus in das Genre der auf dem Markt etablierten Miszellaneen antiker Autoren und Kollektaneenbücher einfügte. Es war die perfekte Kombination aus Originalität und Wiedererkennbarkeit. Dennoch wandte sich Montaigne an einen Verleger in seiner heimatlichen Provinz, sei es aufgrund persönlicher Beziehungen, sei es aus grundsätzlicher Verbundenheit mit der Gascogne.
Diese erste Ausgabe der Essais unterschied sich grundlegend von der, die wir in der Regel heute lesen. Es waren zwei recht schmale Bände, und obwohl die «Apologie für Raymond Sebond» auch damals schon ziemlich umfangreich ausfiel, blieben die meisten Kapitel relativ kurz und schlicht. Sie wechselten zwischen gegensätzlichen Standpunkten und flossen nicht dahin wie ein breiter, mäandernder Fluss, der sich zu einem Delta verzweigt wie die späteren Essais; einige hieltensich sogar an das vorgegebene Thema. Doch in ihnen offenbart sich bereits Montaignes neugierige, unermüdlich fragende Persönlichkeit, und manche erörtern das Rätselhafte oder Eigentümliche des menschlichen Verhaltens. Die damaligen Leser hatten ein Gespür für Qualität, und die Ausgabe fand sofort eine begeisterte Leserschaft.
Millanges druckte diese erste Ausgabe wahrscheinlich in einer sehr kleinen Auflage von fünf- bis sechshundert Exemplaren, die bald verkauft waren. Zwei Jahre später druckte er eine Neuauflage mit ein paar Änderungen. Fünf Jahre später, 1587, wurde diese Ausgabe erneut überarbeitet und in Paris bei Jean Richer veröffentlicht. Inzwischen war das Werk zur Modelektüre des französischen Adels avanciert. 1584 bezeichnete der Bibliograph La Croix du Maine Montaigne als den einzigen zeitgenössischen Autor, der es mit den Klassikern aufnehmen könne – und das nur vier Jahre nach der Veröffentlichung durch einen kleinen Verlag in Bordeaux. Montaigne selbst stellte fest, die Essais fänden mehr Anklang als erwartet und seien eine Art Coffee Table Book, das besonders bei den Damen beliebt sei, denen es «gewöhnlich nur als Einrichtungsgegenstand» diene.
Zu seinen Bewunderern zählte sogar der König. Als Montaigne 1580 nach Paris reiste, überreichte er Heinrich III. ein Exemplar, wie es der Konvention entsprach. Der König versicherte, dass ihm das Buch gefalle, worauf Montaigne ihm geantwortet haben soll: «Dann müssen Eure Majestät mich mögen.» Er hatte stets darauf bestanden, dass das Buch «mit seinem Autor wesensgleich» sei.
Dieser Umstand hätte eigentlich ein Hindernis für seinen Erfolg sein müssen. Mit seiner unverblümten Beschreibung alltäglicher Dinge und innerer Zustände brach Montaigne ein Tabu. Es war unüblich, sich derart zu exponieren, es sei denn, man schrieb über die eigenen großen Leistungen, falls man welche vorzuweisen hatte. Die wenigen Autobiographien der Renaissance – Benvenuto Cellinis Vita sua und Girolamo Cardanos De vita propria – waren vor allem aus diesem Grund unveröffentlicht geblieben. Zwar hatte schon der heilige Augustinus sich selbst zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht, doch seine Bekenntnisse waren ein spirituelles Unternehmen, die Dokumentation einer Gottsuche, sie schwelgten nicht in den Wonnen,
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