Wie soll ich leben?
vernünftige Akteure in dem Spiel zu werden, in dem wir einen Part übernommen haben.
Mit anderen Worten: Der Essay ist das Genre, das uns – mehr als jeder Roman und jede Biographie – hilft, die Kunst des Lebens zu erlernen.
Hazlitts Sohn, der gleichfalls William hieß, gab Cottons Übersetzung der Essais zusammen mit Montaignes Briefen, seinem Reisetagebuch und einer kurzen Biographie 1842 unter dem Titel The Complete Works heraus. 1877 wurde diese Ausgabe dann durch Hazlitts Enkel überarbeitet. Damit prägten die Hazlitts das Bild des englischen Montaigne nachdrücklicher als zuvor Florio. Dieser neue Montaigne wurde insbesondere wegen seiner Aufmerksamkeit für das alltägliche Leben geschätzt und wegen seiner Fähigkeit, in angenehmer Weise darüber zu schreiben, ohne sich formalen literarischen Zwängen zu unterwerfen: Tugenden, die die Hazlitts selbst verkörperten.
Diese Tradition setzte sich ins 20. und sogar ins 21. Jahrhundert hinein fort, bis zu den zahllosen Essayisten und Kolumnisten von Wochenendzeitungen, die, ob sie es wissen oder nicht, das «montaigneske Element in der Literatur» lebendig halten.
Von allen Erben Montaignes jenseits des Kanals verdient das letzte Wort ein Anglo-Ire: Laurence Sterne, der Autor des Tristram Shandy aus dem 18. Jahrhundert. Sein großer Roman, wenn man überhaupt von einem Roman sprechen kann, ist ein ins Extreme getriebenes montaigneskes Drauflosschwadronieren, gelegentlich mit betontem Kopfnicken in Richtung seines französischen Vorläufers und voller spielerischerExperimente, Paradoxien und Abschweifungen. Widmungen und Prologe stehen an den falschen Stellen und sind über den ganzen Roman verstreut. «Des Autors Vorrede» kommt erst in Band III, Kapitel XX. Einmal bleibt eine ganze Seite leer, damit der Leser das Bild einer Figur nach seinen eigenen Vorstellungen skizzieren kann. Und an anderer Stelle gibt es Verlaufslinien, die den bisherigen Gang des Buches nachzeichnen.
Diagramm der Digressionen in Band 6 von Laurence Sternes Roman «Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman»
Der Roman bewegt sich ständig am Rand seiner Selbstauflösung. Handlungsfäden laufen ins Leere, Brüche und Umwege gewinnen die Oberhand. «Versprach ich nicht der Welt ein Kapitel über Knoten?», fragt Sterne an einer Stelle; «zwei Kapitel über das richtige und das falsche Ende einer Frau? Ein Kapitel über Knebelbärte? Ein Kapitel über Wünsche? – ein Kapitel über Nasen? – Nein, das habe ich bereits geliefert – ein Kapitel über meines Onkel Toby’s Züchtigkeit? gar nicht zu reden von einem Kapitel über Kapitel, das ich noch vor dem Schlafengehen beenden will.» Es klingt wie ein Montaigne auf Speed.
Selbstverständlich, sagt Sterne, könne keine Geschichte, die der Welt so, wie sie ist, Beachtung schenkt, anders sein. Sie könne nicht von einem Anfangs- bis zu einem Endpunkt linear fortlaufend erzählt werden. Das Leben ist kompliziert, und man kann nicht nur einer einzigen Spur folgen.
Könnte ein Historiograph seine Historie so vor sich hertreiben wie ein Mauleseltreiber seinen Maulesel, – immer der Nase nach; – zum Beispiel den ganzen Weg von Rom nach Loretto, ohne jemals den Kopf nach links oder rechts zu wenden, ––––– so könnt’ er’s auf seine Kappe nehmen, Euch auf die Stunde genau vorauszusagen, wann er ans Ende seiner Reise gelangen werde; ––––– das aber ist, moralisch gesprochen, ein Unding: Denn wenn er nur ein Fünkchen Geist besitzt, wird er von der geraden Linie unterwegs mit dieser oder jener Gesellschaft auf fünfzig Abwege geraten müssen, die gar nicht zu vermeiden sind.
Wie Montaigne auf seiner Reise nach Italien kann man auch Sterne nicht den Vorwurf machen, dass er von seinem Weg abgewichen ist, denn sein Weg ist die Abschweifung. Seine Route liegt per definitionem da, wohin ihn der Zufall treibt.
Mit Tristram Shandy begann eine irische Tradition, die ihre äußerste Zuspitzung mit James Joyces Finnegans Wake erreichte, einem Roman, der über Hunderte von Seiten assoziativen Nebenlinien und Verzweigungen folgt, bevor er sich am Ende wieder zu sich selbst zurückwendet: Der letzte Halbsatz hakt sich in den Halbsatz ein, mit dem das Buch begann. Für Sterne wie für Montaigne, die es möglichst vermieden, die Dinge sauber zum Abschluss zu bringen, wäre das viel zu ordentlich gewesen. Sie betrachteten das Schreiben und das Leben als einen Fluss, dem man seinen Lauf lassen musste, auch wenn man immer
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