Wie soll ich leben?
blieb kaum einer unangetastet.
Der Montaigne, der 1588 an die Öffentlichkeit trat, während der reale Montaigne im Gefolge Heinrichs III. unterwegs war und einen Genesungsurlaub bei seiner Freundin Marie de Gournay in der Picardie ins Auge fasste, demonstrierte ein erstaunliches neues Selbstbewusstsein. Da er nicht zu Zerknirschung neigte, fiel es ihm auch nicht ein, den digressiven, sehr persönlichen Charakter seiner Essais zu revidieren. Gleichzeitig zögerte er nicht, Ansprüche an diejenigen zu stellen, die sich auf deren Lektüre einließen, und behauptete angesichts seiner Tendenz, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen: «Es ist der unaufmerksame Leser, der meinen Gegenstand aus den Augen verliert, nicht ich.» Die Versicherung, er schreibe nur für Angehörige und Freunde, ließ er jetzt fallen. Er wusste, was er geschaffen hatte, und wies jedes Ansinnen zurück, es zu verwässern, zu verbrämen oder der Konvention anzupassen.
Manchmal plagten ihn dennoch Selbstzweifel, und er konnte sein Werk nicht ohne Verwirrung zur Hand nehmen: «Ich jedenfalls kann den Wert des meinen nicht klarer beurteilen als den eines andern, und ich weise den Essais bald einen hohen, bald einen niedrigen Rang zu, ständig wechselnd und ständig im Zweifel.» Dann musste er erneut zur Feder greifen, um seine Gedanken zu Papier zu bringen.
Erwartungsgemäß fanden auch die Essais von 1588 reißenden Absatz, auch wenn einige Leser, die die Ausgabe von 1580 als ein Kompendium stoischer Weisheit verschlungen hatten, jetzt wie vor den Kopf gestoßen waren. Kritische Stimmen wurden laut. Schweifte Montaigne nicht allzu sehr ab, wurde er nicht zu persönlich? War er nicht zu geschwätzig? Gab es überhaupt einen Zusammenhang zwischen den Überschriften und dem in den Kapiteln behandelten Stoff? Waren die Enthüllungen über sein Sexualleben wirklich notwendig? Und hattesein Freund Pasquier damals in Blois nicht vielleicht doch recht gehabt mit seinem Tadel, Montaigne habe seine Sprache nicht mehr im Griff? Seine Wortwahl war eigenwillig, und er benutzte Neologismen und umgangssprachliche Wendungen der Gascogne.
Welche Unsicherheiten Montaigne auch in sich spürte, sie belasteten ihn wohl nicht sonderlich. Wenn die Kritik ihn überhaupt zu Änderungen bewog, dann zu noch mehr Abschweifungen, noch persönlicheren Bemerkungen und einem noch wilderen und überbordenderen Stil. In den vier Jahren, die ihm nach der Veröffentlichung der Essais von 1588 noch blieben, trieb er es damit immer weiter.
Hatte er in dieser Ausgabe die Zügel schießen lassen, verfiel er jetzt in einen rasenden Galopp. Er schrieb zwar keine neuen Kapitel mehr, fügte aber rund tausend neue Abschnitte ein, einige so lang wie seine ersten Essais . Das Werk, inzwischen bereits doppelt so dick wie zu Beginn, wurde jetzt um ein weiteres Drittel vermehrt. Trotzdem hatte Montaigne das Gefühl, vieles nur andeuten zu können, weil er entweder keine Zeit oder keine Lust hatte, es auszuarbeiten: «Um noch mehr hiervon unterbringen zu können, staple ich oft nur die Stichworte aufeinander. Wollte ich sie alle ausarbeiten, müsste ich diesen Band um ein Mehrfaches erweitern.» Hier trifft seine Bemerkung über Plutarch zu, der uns «nur einen Fingerzeig [gibt], welchen Weg wir, wenn wir wollen, einschlagen können». Freiheit ist die einzige Regel und Abschweifung der einzige Weg.
Auf die Titelseite eines Arbeitsexemplars setzte Montaigne die Worte Vergils: «viresque aquirit eundo», «im Fortschreiten wächst seine Kraft». Das bezog sich womöglich auf den Verkaufserfolg der Essais , beschrieb aber auch die Art und Weise, wie sein Werk immer weiteren Stoff aufnahm – gleich dem Schneeball, der einen verschneiten Hügel hinunterrollt. Montaigne scheint selbst befürchtet zu haben, die Kontrolle darüber zu verlieren. Als er seinem Freund Antoine Loisel ein Exemplar der Ausgabe von 1588 schenkte, bat er ihn in seiner Widmung, ihm zu sagen, was er davon hielt, «denn ich befürchte, fortschreitend schlechter zu werden».
Es stimmt, die Essais erreichten allmählich die Grenzen des Fasslichen. Durch all die Wucherungen hindurch lässt sich manchmal dennoch das Skelett der Erstausgabe erkennen; in modernen Editionensind die verschiedenen Entstehungsphasen durch Buchstaben gekennzeichnet: A für die Ausgabe von 1580, B für die von 1588 und C für alles andere danach. Man hat den Eindruck, als stünde man vor der von Schlingpflanzen überwucherten Tempelanlage von Angkor
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