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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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weiter abschweifte, ohne jemals an ein Ziel zu gelangen. Sterne und Montaigne beschreiben eine Welt, die ständig etwas Neues hervorbringt, über das man schreiben kann. Warum also sollte man einen Schlusspunkt setzen? Damit werden sie zu Philosophen aus Zufall: zu Naturforschern auf einer Forschungsreise durch die menschliche Seele ohne Karten und Pläne und ohne eine Vorstellung davon, wo sie letztlich landen oder was sie tun werden, wenn sie erst mal angekommen sind.

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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Bedenke alles, bereue nichts!
Je ne regrette rien
    Manche Schriftsteller schreiben ihre Bücher schlicht und einfach. Andere modellieren sie wie Ton oder konstruieren sie, indem sie immer mehr Material anlagern. Zu Letzteren gehörte auch James Joyce. Sein Finnegans Wake wuchs in immer neuen Entwürfen und Druckausgaben, bis aus den leidlich vertraut klingenden Sätzen der ersten Ausgabe, zum Beispiel
    Who was the first that ever burst?
    eigentümliche Mutationen geworden waren:
    Waiwhou was the first thurever burst?
    Montaigne verwischte nicht die Bedeutung seiner Worte wie Joyce, sondern überarbeitete, ergänzte und fügte hinzu. Allerdings hielt er es nicht für notwendig, etwas zu streichen. Reue beim Schreiben war ihm fremd – genau wie im Leben, wo er sich dem amor fati überließ, der heiteren Ergebenheit in alles, was geschieht.
    Damit stand er im Widerspruch zur Lehre des Christentums, der zufolge man seine Fehler bereuen müsse, um ganz von vorne beginnen zu können. Einiges, was Montaigne in der Vergangenheit getan hatte, war ihm zwar nicht mehr nachvollziehbar. Doch gab er sich mit der Erklärung zufrieden, er wäre unter anderen Umständen ein anderer Mensch gewesen. Seine früheren Identitäten waren ihm so vielgestaltig wie die Gäste einer Party. Sowenig es ihm eingefallen wäre, Urteile über sie zu fällen – jeder hatte schließlich seine eigenen Gründe undStandpunkte –, so wenig dachte er daran, über sich selbst zu Gericht zu sitzen. «Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen», schrieb er, «die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will.» Für ihn gab es keinen maßgeblichen Standpunkt, von dem aus er zurückblicken und einen in sich konsistenten Montaigne konstruieren konnte, der er gern gewesen wäre. Da er nicht versuchte, seine früheren Identitäten aus seinem Leben wegzuretuschieren, sah er auch keinen Grund, dies in seinem Buch zu tun. Die Essais entwickelten sich im Verlauf von zwanzig Jahren immer weiter, genau wie er; sie waren das, was sie geworden waren, und dabei beließ er es.
    Er neigte, wie gesagt, nicht zu Reue und Zerknirschung, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sein Buch immer wieder zu lesen und häufig etwas hinzuzufügen. Er erreichte nie den Punkt, an dem er die Feder niederlegen und sagen konnte: «So, jetzt habe ich alles zu Papier gebracht, was ich über mich sagen wollte.» Er musste weiterschreiben, solange er lebte:
    Wer sähe nicht, dass ich einen Weg eingeschlagen habe, auf dem ich so mühelos wie unermüdlich fortschreiten werde, bis der Welt Tinte und Papier ausgeht?
    Das Einzige, was ihn aufhalten konnte, war der Tod. Wie Virginia Woolf feststellte, gelangen die Essais nicht an ihr Ende, sondern «erreichen ihren Abbruch in vollem Galopp».
    Zu dieser unermüdlichen Anstrengung wurde Montaigne nicht zuletzt von seinen Verlegern ermuntert. Die ersten Ausgaben hatten sich gut verkauft, und es bestand eine große Nachfrage nach neuen, umfangreicheren und besseren Ausgaben. 1588, nach seiner grand tour und seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bordeaux, hatte er den Essais vieles hinzuzufügen. Noch umfangreichere Ergänzungen machte er in den nachfolgenden Jahren, nach den erschreckenden Erlebnissen am Hof des geflüchteten Königs. Dabei ging es ihm weniger um die aktuelle politische Lage Frankreichs, sondern um Mäßigung, gesunden Menschenverstand, menschliche Unvollkommenheit und viele andere seiner Lieblingsthemen.
    Die Ausgabe von 1588 erschien bei dem renommierten Pariser Verleger Abel L’Angelier, das Titelblatt enthielt den Zusatz: «Erweitert um ein drittes Buch und um sechshundert Hinzufügungen zu den ersten beiden Büchern». Das ist zwar korrekt, spielt aber den wahren Umfang der Ergänzungen herunter: Die Essais von 1588 waren fast doppelt so umfangreich wie die von 1580. Das dritte Buch bestand aus dreizehn langen Kapiteln, und von den Essais der ersten beiden Bücher

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