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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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Naturzustand:

    Ich wirkte im gemeinen Wesen alles
    Durchs Gegenteil; denn keine Art von Handel
    Erlaubt’ ich, keinen Namen eines Amts;
    Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtum,
    Dienst, Armut gäb’s nicht; von Vertrag und Erbschaft,
    Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts;
    Auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Öl, Metall,
    Kein Handwerk: alle Männer müßig, alle.

    Diese Passage zeigt auffällige Ähnlichkeiten mit dem, was Montaigne – in Florios Übersetzung – über die Tupinambá sagt:
    Es ist ein Volk […], das keine Art von Handel kennt, keine Gelehrtheit, keine Einsicht in Zahlen, keinen Namen eines Amts oder einer Obrigkeit, keine Dienstbarkeiten, keinen Reichtum und keine Armut, keinen Vertrag und keine Erbschaft, keine Güterteilung, keinen Besitz, kein Handwerk, sondern Müßiggang; keine Berücksichtigung anderer Verwandtschaft als der Gemeinschaft, keine Bekleidung, nur Natur, keine Düngung der Felder, keinen Gebrauch von Wein, Korn oder Metall.
    Nach der Entdeckung dieser offenkundigen Parallele durch Edward Capell Ende des 18. Jahrhunderts wurde es zu einem Volkssport, auch in anderen Stücken Shakespeares nach Einflüssen Montaignes zu suchen. Am vielversprechendsten ist gewiss der Hamlet , dessen Protagonisten oft reden wie ein Montaigne, der, auf einer Bühne stehend, ein dramatisches Rätsel zu lösen hat. Wenn es bei Montaigne heißt: «Wir sind aber, wie soll ich sagen, in uns selber doppelt», oder wenn ersich selbst in einer nicht enden wollenden Kaskade von Adjektiven als «schamhaft und unverschämt, keusch und geil, schwatzhaft und schweigsam, zupackend und zimperlich, gescheit und dumm, mürrisch und leutselig, verlogen und aufrichtig, gebildet und ungebildet, freigebig und geizig und verschwenderisch» charakterisiert, klingt es wie ein Monolog aus Shakespeares Hamlet . Auch Montaigne meint, dass einer, der zu viel über all die Umstände und Folgen seines Tuns nachgrübelt, gar nicht mehr handeln kann – ein gutes Resümee von Hamlets Dilemma.
    Die Ähnlichkeiten könnten auch darauf zurückzuführen sein, dass beide – Montaigne wie Shakespeare – vom Geist der Spätrenaissance mit all ihren Verwirrungen und Unaufgelöstheiten durchdrungen waren. Man bezeichnete sie als die ersten Autoren, die das Lebensgefühl des modernen Menschen dargestellt haben: die Unsicherheit, wo man hingehörte, wer man war und wie man handeln sollte. Dem Shakespeare-Forscher John M. Robertson zufolge ist die gesamte Literatur nach Montaigne und Shakespeare die Ausarbeitung eines Grundthemas: des in sich selbst gespaltenen Bewusstseins.
    Man darf diesen Vergleich aber nicht zu weit treiben, schließlich war Shakespeare Dramatiker und kein Essayist. Er konnte seine Widersprüche zwischen verschiedenen Charakteren aufteilen, um sie auf der Bühne aufeinanderprallen zu lassen. Montaigne dagegen musste alle Widersprüche in sich selbst fassen. Montaigne steht auch nicht einsam und alle überragend ganz oben an der Spitze wie Shakespeare in England. Er hatte weniger Neider, und es gab keine Bilderstürmer, die ihn vom Sockel stürzen wollten, indem sie behaupteten, er habe seine Essais nicht selbst geschrieben.
    Fast keine. Zu den wenigen Ausnahmen zählt einer der großen «Anti-Stratfordianer» oder Shakespeare-Zweifler des 19. Jahrhunderts: Ignatius Donnelly. Seinem umfangreichen Werk, in dem er den Nachweis zu führen suchte, dass Francis Bacon der Autor von Shakespeares Dramen war, fügte Donnelly ein Kapitel hinzu, das Belege dafür anführte, dass Bacon zusätzlich auch noch der Verfasser von Montaignes Essais , Robert Burtons Anatomy of Melancholy (Anatomie der Schwermut) sowie Christopher Marlowes Werk sei. Hinweise darauf findet er in den Essais überall verstreut, etwa wenn Montaigne schreibt:«Wer einem Jungen seine eigensinnige und hartnäckige Vorliebe für Schwarzbrot, Speck [ bacon ] und Knoblauch austreibt, treibt ihm damit die Vernaschtheit aus.» Der Name Francis taucht mehrfach in den Essais auf, wenn auch zugegebenermaßen in der französischen Form François, womit in der Regel der französische König Franz I. gemeint war. Egal, auch das war ein Hinweis. Um die Sache auf die Spitze zu treiben, führte Donnelly die Entdeckung einer Mrs. Pott an, die ihn auf die häufige Erwähnung von «mountains» (Bergen) oder Montaines in Shakespeares Stücken aufmerksam machte. Wenn Bacon der Verfasser von Shakespeares Dramen war, dann war jeder in ihnen enthaltene Bezug auf

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