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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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alltägliche Vorfälle von seinem Landgut, Begebenheiten, die er noch aus seiner Zeit am Gericht und in der Politik in Erinnerung hatte, sowie Merkwürdigkeiten, deren Zeuge er auf seinen (bis dahin nicht sehr weiten) Reisen geworden war. Das waren seine bescheidenen Anfänge. Später kam immer mehr Stoff hinzu, bis er fast das ganze Spektrum seines Fühlens und Denkens abschritt, nicht zuletzt seine merkwürdige Reise in die todesähnliche Bewusstlosigkeit.
    Der Gedanke an eine Veröffentlichung mag ihm schon früh gekommen sein, auch wenn er behauptete, er habe nur für Angehörige und Freunde geschrieben. Vielleicht begann er sogar mit der Absicht, ein Kollektaneenbuch zu schreiben, eine Sammlung thematisch geordneter Zitate und Geschichten, wie es zu jener Zeit populär war. Wenn dies der Fall war, so gab er die Idee bald wieder auf, womöglich unter dem Einfluss jenes Schriftstellers, den er neben Seneca am meisten schätzte: Plutarch. Plutarch hatte im 1. Jahrhundert n. Chr. anschauliche Biographien historischer Gestalten, die Vitae , geschrieben sowie die kürzeren Abhandlungen der Moralia , die im selben Jahr ins Französische übersetzt wurden, in dem Montaigne mit seinen Essais begann. Es waren Gedanken und Geschichten zu Fragen wie: «Können Tiere als vernünftig bezeichnet werden?» oder «Wie gelangt man zu innerem Frieden?» Plutarch hielt hierzu denselben Rat bereit wie Seneca: Konzentriere dich auf das, was vor dir liegt, und schenke ihm deine ganze Aufmerksamkeit.
    Im Laufe der 1570er Jahre richtete sich Montaigne immer besser inseinem Leben nach der Krise ein, und seine Aufmerksamkeit zu fokussieren wurde seine liebste Beschäftigung. Das produktivste Jahr war 1572, in dem er die meisten Essais des ersten und Teile des zweiten Buches schrieb. Der Rest folgte 1573 und 1574. Bis er so weit war, die Essais zu veröffentlichen, dauerte es aber noch lange. Vielleicht spielte er tatsächlich zunächst nicht mit dem Gedanken, vielleicht war er erst nach all den Jahren mit dem Ergebnis seines Schreibens zufrieden. Zwischen seinem Rückzug ins Privatleben im Jahr 1570 und dem 1. März 1580, dem Tag nach seinem siebenundvierzigsten Geburtstag, als er das Vorwort zur ersten Ausgabe der Essais abschloss, die ihn über Nacht berühmt machten, liegen jedenfalls zehn Jahre.
    Schreibend hatte Montaigne seine «Hirngespinste» und «Wahngebilde» überwunden. Jetzt beobachtete er die Welt genauer und entwickelte die Gewohnheit, innere Empfindungen und soziale Begegnungen sehr präzise zu beschreiben. Hierfür war Plinius sein Gewährsmann: «Jedermann, sagt Plinius, sei sich selbst der beste Lehrmeister, vorausgesetzt, er habe die Fähigkeit, sich genau zu beobachten.» Montaigne, der Mensch, der seinen alltäglichen Verrichtungen auf seinem Gut nachging, wurde stets von dem Schriftsteller Montaigne begleitet, der alles ausforschte und notierte.
    Als er daher schließlich über seinen Reitunfall schrieb, ging es ihm nicht nur darum, die noch verbliebene Todesfurcht loszuwerden wie Sand, den man aus seinen Schuhen schüttelt, sondern auch darum, seine Selbsterforschung auf ein ihm bis dahin unbekanntes Niveau zu heben. So, wie er sich in den Tagen nach seinem Unfall immer wieder von seinen Bediensteten den Hergang erzählen ließ, so muss er jetzt seinen Geist erforscht haben, um jenes Hinübergleiten von damals nachzuerleben, als sein Atem oder sein Geist im Begriff war, seinen Körper zu verlassen, aber auch den Schmerz der Rückkehr ins Leben. Diese Erfahrung «verarbeitete» er, wie Psychologen heute sagen würden, indem er darüber schrieb. Er rekonstruierte die Geschichte, wie er sie tatsächlich erlebt hatte, nicht, wie man sie philosophisch korrekt erleben sollte.
    Dieses neue Hobby war kein Zeitvertreib. Montaigne behauptete immer wieder, er habe die Essais unbekümmert hingeworfen, aber manchmal legte er diese Pose ab und gestand, dass es harte Arbeit war:
    Es ist ein schwieriges Unterfangen – und dies weit mehr, als es scheint –, der so schweifenden Bewegung unsres Geistes bis in seine tiefsten und dunkelsten Winkel zu folgen und noch seine winzigsten Windungen und Wendungen auszumachen und aufzuzeichnen; und es ist zugleich eine völlig ungewöhnliche Beschäftigung, die uns von den gewöhnlichen Weltgeschäften abzieht.
    Montaigne feierte die Schönheit des Dahingleitens über die Oberfläche des Lebens: eine Kunst, die er mit zunehmendem Alter immer mehr vervollkommnete. Gleichzeitig jedoch

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