Wie soll ich leben?
Zimmern des Schlosses ein Feuer, die Hauptbibliothek jedoch hat keinen Kamin. An kalten Tagen zog sich Montaigne in das beheizbare angrenzende, gemütlichere Zimmer zurück.
Das Beeindruckendste in diesem runden Turmzimmer aber war wohl Montaignes erlesene Sammlung von Büchern, die in fünf Reihen übereinander in rundum laufenden Holzregalen standen, für den Schreiner gewiss eine Herausforderung. Von seinem Schreibtisch aus erfasste er mit einem Blick alle seine Bücher. Als er die Bibliothek bezog, besaß er rund tausend Bände: eine stattliche Sammlung, und Montaigne las diese Bücher auch tatsächlich. Heute ist die Sammlung zerstreut, und auch die Regale sind verschwunden.
Hier bewahrte Montaigne auch seine anderen Sammlungen auf: historische Memorabilien, Familienerbstücke, Artefakte aus Südamerika. Über seine Vorfahren schrieb er: «Von den meisten halte ich noch das Schreibzeug in Ehren, das Siegel, die Stundenbücher und ein von ihnen benutztes Schwert ganz eigner Art; und aus meinem Arbeitszimmer habe ich noch nicht die langen Reitgerten weggeräumt, die mein Vater gewöhnlich in der Hand trug.» Die Südamerika-Sammlung bestand aus Reisemitbringseln und enthielt Schmuck, Holzschwerter und Rohrstäbe, die beim Tanzen den Takt vorgaben: Montaignes Bibliothek war nicht nur Aufbewahrungsort für diese Objekte und Studierstube,sie war eine Wunderkammer, vergleichbar Sigmund Freuds letztem Arbeitszimmer in Hampstead, London: eine Schatzkammer voller Bücher, Schriftstücke, Statuetten, Bilder, Vasen, Amulette und ethnographischer Kuriositäten, die Verstand und Phantasie anregten.
Die Bibliothek beweist auch, dass Montaigne durchaus mit der Mode ging. Der Trend, sich ein solches Refugium zu schaffen, hatte sich, ausgehend von Italien ein Jahrhundert zuvor, in ganz Frankreich verbreitet. Wer es sich leisten konnte, füllte Zimmer mit Büchern und Lesepulten und zog sich unter dem Vorwand zu arbeiten dorthin zurück. Montaigne trieb diese Rückzugstendenz auf die Spitze, indem er seine Bibliothek außerhalb des Wohnhauses einrichtete. Es war ein Adlerhorst und eine Höhle oder, wie er selbst sagte, eine arrière-boutique: ein Hinterzimmer in einem Geschäft. In dieses Hinterstübchen konnte er Besucher einladen, was er oft tat, ohne dass er dazu verpflichtet gewesen wäre. «Arm dran ist meines Erachtens, wer bei sich zu Hause nichts hat, wo er bei sich zu Hause ist, wo er sich verbergen, wo er mit sich selbst hofhalten kann.»
Seine Bibliothek war für ihn der Inbegriff der Freiheit, und daher überrascht es auch nicht, dass er sein Refugium fern vom Hauptgebäude bezog und wohlüberlegt ausgestaltete. Außer der Inschrift, die seinen Rückzug ins Private dokumentierte, war das kleine Zimmer neben der Bibliothek mit Wandmalereien vom Boden bis zur Decke geschmückt. Sie sind heute verblasst, waren aber wohl Bilder großer Schlachten, eine Darstellung der Venus, den Tod des Adonis betrauernd, eines bärtigen Neptuns, von Schiffen im Sturm sowie bukolische Szenen: gängige Motive der antiken Welt. Die Deckenbalken seiner Bibliothek waren mit Sinnsprüchen antiker Autoren versehen, und auch dies entsprach dem Geschmack seiner Zeit, wenn auch nur dem einer Minderheit. Schon der italienische Humanist Marsilio Ficino hatte die Wände seiner Villa in der Toskana mit klassischen Zitaten geschmückt, und der Baron de Montesquieu tat später dasselbe in seinem Schloss bei Bordeaux als Hommage an Montaigne.
Die verblassenden Inschriften auf den Holzbalken wurden kürzlich restauriert und sind jetzt gut lesbar, so dass einem beim Gang durch das Zimmer Stimmen von oben ins Ohr flüstern:
Solum certum nihil esse certi
Et homine nihil miserius aut superbius
Einzig dass nichts gewiss ist, ist gewiss,
und dass es nichts Erbärmlicheres gibt
als den Menschen, und dabei nichts Hochmütigeres. (Plinius der Ältere)
ΚΡΙΝΕΙ ΤΙΣ ΑΥΤΟΝ ΠΩΠΟΤ ΑΝΘΡΩΠΟΝ
ΜEΓΑΝ ΟΝ EΞΑΛΕΙΦΕΙ ΠΡΟΦΑΣΙΣ Η ΤΥΧΟΥΣ’ ΟΛΟΝ
Wer je an seine Menschengröße glaubt, den stürzt die erste beste
Gelegenheit in gänzliches Verderben. (Euripides)
ΕΝ ΤΩ ΦΡΟΝΕΙΝ ΓΑΡ ΜΗΔΕΝ ΗΔΙΣΤΟΣ
ΒΙΟΣ ΤΟ ΜΗ ΦΡΟΝΕΙΝ ΓΑΡ ΚΑΡΤ’ ΑΝΩΔΥΝΟΝ ΚΑΚΟΝ
Es gibt kein schöneres Leben als das eines unbekümmerten Mannes.
Unbekümmertheit ist ein wahrhaft schmerzloses Übel. (Sophokles)
Die Holzbalken dokumentieren Montaignes Entscheidung für ein Leben ganz
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