Wie soll ich leben?
es selbst ausprobiert und dabei etwas ganz anderes gelernt: dass nämlich die Frage irrelevant ist, da die Phantasie einen glauben macht, man erlebe eine gesteigerte Lust, egal, ob sie «real» ist oder nicht. Letztlich ist nur eines sicher: die Absonderlichkeit des menschlichen Geistes. Eine ungewöhnliche Schlussfolgerung, die keinen Bezug zu dem Thema zu haben scheint, von dem der Essai ursprünglich ausging.
Ein anderer Essai , «Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode urteilen», beginnt mit der nach Solon zitierten Plattitüde, dass kein Mensch glücklich genannt werden könne, solange er noch den Gefahren des Lebens ausgesetzt sei. Dann wechselt Montaigne zu einem interessanteren Gedanken: dass unser Urteil über das Leben eines Menschen womöglich davon abhängt, wie er gestorben ist. Ein Mensch, der einen schönen und glückhaften Tod hat, bleibt als jemand in Erinnerung, der gut gelebt hat. Dafür gibt Montaigne Beispiele, und dann wechselt er erneut den Kurs. Tatsächlich, fährt er jetzt fort, könne jemand, der gut gelebt hat, qualvoll sterben, und umgekehrt. Zu Montaignes Lebzeiten starben drei der verruchtesten Menschen, die er kannte, einen «bis zur Vollkommenheit friedlichen Tod». Das Kapitel ist also eine lange, dreifach gewundene Einleitung, um lediglich Montaignes Hoffnung auf ein gutes Ende seines eigenen Lebens zu bekunden – wobei er hinzufügt, dass ein gutes Ende bedeutet: «ruhig und in aller Stille» zu sterben, also alles andere als bewundernswürdig. Das Kapitel endet unvermittelt in dem Augenblick, da der Leser sich fragt, ob das nun bedeutet, dass Montaigne gut gelebt hat oder nicht.
Die meisten Überlegungen Montaignes laufen auf die Schlussfolgerung hinaus, dass das Leben nicht so einfach ist, wie er es soeben beschrieben hat.
Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre und Erprobung.
Der ständige Richtungswechsel erklärt sich teils aus dieser Grundhaltung des Fragens, teils aber auch daraus, dass er mehr als zwanzig Jahre lang an den Essais schrieb – ein langer Zeitraum, in dem sich die Ansichten eines Menschen verändern, vor allem wenn er viel reist, liest, mit interessanten Leuten spricht und politische und diplomatische Ämter bekleidet. Bei der Durchsicht früherer Entwürfe der Essais fügte er weiteren Stoff hinzu und bemühte sich erst gar nicht, eine künstliche Einheit zu schaffen. Im Verlauf weniger Zeilen begegnen wir Montaigne deshalb als jungem Mann, als altem Mann, der mit einem Fuß schon im Grab steht, und dann wieder als Bürgermeister in seinen besten Jahren, der eine schwere politische Verantwortung zu tragen hat. Er klagt über Impotenz, und im nächsten Augenblick erleben wir ihn jung und sinnenfroh, «bis zur Unverschämtheit genital». Er ist hitzköpfig, freimütig und verschwiegen; von anderen Menschen begeistert und dann wieder ihrer überdrüssig. Seine Gedanken hören wir, wie sie ihm in den Sinn kommen. Er lässt uns das Vergehen der Zeit in seiner inneren Welt erleben: «Ich schildere nicht das Sein, ich schildre das Unterwegssein: weniger von einem Lebensalter zum andern […] als von Tag zu Tag, von Minute zu Minute.»
Zu den Lesern, die von Montaignes Beschreibung des Dahinströmens seines Erlebens fasziniert waren, zählte eine große Pionierin der Literatur des «Bewusstseinsstroms» im frühen 20. Jahrhundert, Virginia Woolf. Ihr eigenes Schreiben zielte darauf ab, in den Fluss des Geistes einzutauchen und ihm zu folgen, wohin er sie führte. Ihre Romane tauchen «von Minute zu Minute» immer wieder neu in die Welt verschiedener Figuren ein. Manchmal wechselt Virginia Woolf von einem Flussarm in einen anderen, und dann verändert sich die Perspektive, als würde ein Mikrofon von einem Sprecher zu einem anderen weitergereicht, doch der Strom selbst bricht nie ab, bis zum Schluss nicht. Virginia Woolf betrachtete Montaigne als den ersten Schriftsteller, der etwas in der Art versucht hat, wenngleich nur mit einem einzigen, seinem eigenen Bewusstseinsstrom. Sie würdigte ihn auch als denErsten, der dem schieren Gefühl, am Leben zu sein, so viel Aufmerksamkeit schenkte. «Beobachte, beobachte unaufhörlich», sei seine Maxime gewesen, so Virginia Woolf. Und das, was er beobachtete, war dieser Strom des Lebens, der seine ganze Existenz durchfloss.
Montaigne war der Erste, der auf diese Weise schrieb, aber er war nicht der Erste, der
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