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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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im Zeichen der Reflexion und Philosophie statt der Politik. Eine solche Verschiebung entsprach dem Rat der antiken Philosophen. Der große stoische Philosoph Seneca drängte seine römischen Zeitgenossen immer wieder, sich zurückzuziehen, um sich selbst zu finden, wie wir heute vielleicht sagen würden. In der Renaissance wie im alten Rom war dieser Rückzug Teil einer guten Lebensführung. Es gab eine Zeit der politischen Geschäftigkeit, aus der man sich irgendwann zurückzog, um zu entdecken, worauf es im Leben wirklich ankam, und um mit dem langen Prozess der Vorbereitung auf den Tod zu beginnen. Dieser zweiten Forderung gegenüber hatte Montaigne seine Vorbehalte, aber sein Wunsch nach einem kontemplativen Leben steht außer Zweifel: «Lösen wir also alle Bindungen an andre, und gewinnen wir es über uns, wahrhaft allein leben zu können, in voller Geruhsamkeit!»
    Seneca hatte bei seiner Empfehlung, sich zurückzuziehen, auch vor Gefahren gewarnt. In seinem Dialog Die Ruhe der Seele schrieb er, Untätigkeit und Abkapselung brächten alle Auswirkungen einer falschen Lebensführung zum Vorschein – Auswirkungen, denen sich der Mensch gewöhnlich dadurch entziehe, dass er sich beschäftigt halte, also dieses falsche Leben weiterführe. Zu den Symptomen gehörten Unzufriedenheit, Selbsthass, Angst, Unentschlossenheit, Lethargie und Melancholie. Das Tätigsein aufzugeben bringe geistige Übel hervor,besonders wenn man anfange, zu viele Bücher zu lesen – oder, noch schlimmer, die Bücher nur zur Repräsentation auslege, um damit zu prahlen.
    Anfang der 1570er Jahre, als Montaigne seine Wertvorstellungen neu ordnete, erlebte er offenbar genau die existentielle Krise, vor der Seneca warnte. Er hatte zwar zu tun, dennoch aber weniger Aufgaben zu erfüllen als vorher. Dieser Müßiggang brachte ihn auf seltsame Gedanken und führte zu «einer melancholischen Gemütsverfassung», die gar nicht seinem Naturell entsprach. Sobald er sich zurückgezogen hatte, sagte er, sei sein Geist losgaloppiert wie ein durchgegangenes Pferd – ein naheliegender Vergleich, wenn man bedenkt, was ihm kurz zuvor zugestoßen war. Sein Kopf sei mit abstrusen Gedanken erfüllt gewesen, die wucherten wie Unkraut auf brachliegenden Äckern. In einem anderen eindringlichen Bild – er steigerte die Wirkung gern, indem er solche Bilder aneinanderreihte – verglich er den müßigen Geist mit dem Schoß einer Frau, der, wenn er nicht mit gutem Samen gleichsam bestellt werde, nur Klumpen unförmigen Fleisches hervorbringe, so jedenfalls die zeitgenössische Vorstellung. Und in einem Vergil entnommenen Bild verglich er seine Gedanken mit den Mustern, die über die Zimmerdecke tanzen, wenn sich das Sonnenlicht auf der Oberfläche einer mit Wasser gefüllten Schüssel bricht. Wie das zitternde Licht den Raum durchflirrt, so werfe sich auch ein untätiger Geist ziellos hin und her und erzeuge im grenzenlosen Feld der Einbildungen fantaisies oder rêveries – Begriffe, die damals eine weniger positive Konnotation hatten als heute und eher Wahngebilde, Hirngespinste bezeichneten als Tagträume.
    Seine rêverie brachte Montaigne auf einen weiteren absonderlichen Gedanken: die Idee zu schreiben. Er spricht zwar auch hier von rêverie , aber sie enthielt immerhin das Versprechen eines tätigen Geistes. Erfüllt von «Schimären und phantastischen Ungeheuern, immer neuen, ohne Sinn und Verstand», beschloss er, über diese Hirngespinste zu schreiben, nicht um sie loszuwerden, sondern um ihre Eigenart besser zu verstehen. Und so nahm er die Feder zur Hand. Der erste Essai war geboren.
    Seneca wäre zufrieden gewesen. Wenn man nach seinem Rückzug aus dem öffentlichen Leben niedergeschlagen oder gelangweilt war, soempfahl er, solle man sich umsehen und sich für die Vielfalt und Erhabenheit der Dinge ringsum interessieren. Die Rettung liege in der umfassenden Aufmerksamkeit für die Natur der Erscheinungen. Und Montaigne wandte sich dem ihm am nächsten liegenden Naturphänomen zu: sich selbst. Er begann, sich selbst zu betrachten, seine eigenen Erfahrungen zu hinterfragen und aufzuschreiben, was er dabei beobachtete.
    Zunächst folgte er seinen persönlichen Vorlieben, besonders den Geschichten, die er gelesen hatte: Erzählungen von Ovid, historischen Beschreibungen von Caesar und Tacitus, biographischen Abrissen von Plutarch, Ratschlägen zur Lebenskunst von Seneca und Sokrates. Dann schrieb er Geschichten auf, die er von Freunden gehört hatte,

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