Wie Tau Auf Meiner Haut
wurden schmal, Ärger leuchtete darin auf. Grace war ganz
ruhig und wartete darauf, dass sich die neu gefundene Freundin in eine Ex-
Freundin verwandelte. Möglicherweise würde sie sich eine neue Bleibe suchen
müssen. Harmony konnte es nicht ausstehen, hintergangen zu werden. Und zu
Recht hasste sie es, wenn man sie in einer Angelegenheit im dunkeln tappen
ließ, die ihr heiliges Zuhause betraf. Sie dachte einen Moment, ohne etwas zu
sagen, nach, dann fällte sie ihre Entscheidung und nickte knapp mit ihrem
weißblonden Schöpf. »Zugegeben, passen tut es mir überhaupt nicht, aber gut.
Du traust weder mir noch sonst irgendwem, habe ich recht? «
»Ich kann es nicht«, erwiderte Grace leise. »Auch dein Leben stünde auf dem
Spiel, wenn Pa... wenn er auch nur vermuten würde, dass du irgend etwas über
mich weißt. «
»Du willst mich also schützen, ja? Mensch, Mädchen, ich glaube, du zäumst das
Pferd vom Schwanz auf. Wenn ich jemals jemanden ganz und gar verloren
gesehen habe, dann bist du es. Ein Achtjähriger ist normalerweise schon viel
gerissener, als du es bist. Du siehst aus, als ob du dein ganzes Leben in einem
Kloster oder so etwas verbracht hättest. Ich weiß ja, dass es nicht deine Sache
ist, aber mit deinem Aussehen würdest du jede Menge Kohle auf der Straße
machen. «
Grace blinzelte, weil sie von dem plötzlichen Themenwechsel vollkommen
überrumpelt war. Sie sollte eine erfolgreiche Prostituierte sein können? Die
ruhige, ganz gewöhnlich aussehende, etwas abgehobene Grace St. John? Sie
konnte gerade noch vermeiden, Harmony auszulachen.
»Ja, ich weiß«, sagt Harmony, die offenbar ihre Gedanken erraten konnte. »Du
hast keinen Sinn für die richtige Aufmachung, du trägst kein Make-up. Aber so
etwas kann man leicht ändern. Zum Beispiel, indem du die passende Kleidung
trägst und nicht so ein Schlabberzeug. Weite Kleidung taugt nicht viel, du willst
den Leuten doch etwas zum Anfassen bieten, nicht wahr? Dein Gesicht sieht so
verdammt unschuldig aus, dass es viele Männer verrückt machen würde. Sie
würden dir sicherlich gerne all die unartigen Dinge beibringen. In dieser Hinsicht
sind Männer sehr einfach gestrickt. Ein bisschen Make-up, um sie auf die falsche
Fährte zu lenken und sie denken zu lassen, dass du doch nicht ganz so
unschuldig bist. Außerdem hast du einen Schmollmund, für den Models für die
Silikonspritzen jede Menge Geld hinlegen. Verdammte Idioten. Und dann deine
Haare. Männer mögen langes Haar. Ich glaube aber den Grund zu kennen,
warum du diese miese Perücke trägst. «
Harmonys Rede war von den Mundarten her mit allem gespickt, ob nun mit
Chicagoer Straßenslang oder mit dem langsamen Südstaatenakzent, gelegentlich
flammte auch etwas Bildungsbürgersprache auf. Es war unmöglich, ihre Herkunft
zu erraten. Aber niemand, der ihr länger als eine halbe Minute zuhörte, würde
ihre geistige Beweglichkeit in Frage stellen. Denn zwischen den Zeilen gab sie
auch den einen oder anderen scharfsinnigen Ratschlag.
»Sieht man denn, dass es eine Perücke ist? « fragte Grace.
»Den meisten Männern würde es nicht auffallen. Aber sie ist blond. Blond und rot
fallen auf. Hol dir eine braune Perücke, hellbraun, mittellang und vom Stil her
variabel. Und kauf eine bessere Qualität. Sie wird länger halten und natürlicher
aussehen. « Sie stand mit dem Medizinkasten in der Hand auf und ging zur Tür.
»Und schlaf jetzt erst einmal, Mädchen. Du siehst aus, als ob du gleich vom Stuhl
fallen würdest. «
Sie war tatsächlich vollkommen erschöpft, außerdem zeigte der Alkohol seine
Wirkung. Schlafen würde alles sein, was sie jetzt noch tun konnte. Aber sie sollte
sich irren. Einige Stunden später, nachdem ihr Kopf wieder klar, ihr Körper aber
noch übermüdet war, hatte sie nicht einmal gedöst. Sie saß an das Kopfteil
gelehnt, mit einem pochenden linken Arm, und balancierte auf ihren Knien über
der Decke ihren Laptop. Sie versuchte zu arbeiten. Aber die Vertracktheiten alter
Sprachen, in einem archaischen Kaligraphenstil geschrieben, schienen zu
schwierig für sie zu sein. Sie holte sich ihre Tagebuchaufzeichnungen auf den
Bildschirm. Es irritierte sie, dass sie sich an manches nicht mehr erinnern konnte,
als ob sie die Aufzeichnungen einer Fremden lese. Lag dieses Leben tatsächlich
so vollkommen hinter ihr? Sie wollte es nicht wahrhaben, gleichzeitig aber
fürchtete sie um ihr Überleben, wenn sie sich weiter
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