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Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
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abgegeben, dass Deutschland schafft sich ab auch deshalb gekauft wurde, weil die politischen, die intellektuellen Kreise es so scharf abgelehnt haben. Es sei der Ausdruck eines Volkes, das sich unverstanden und ungehört fühlt und das denkt, die eigenen vitalen Interessen werden nicht mehr wahrgenommen. Ist denn das ganz falsch?
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    Ganz falsch ist das nicht. Aber ganz richtig ist es erst recht nicht. In der Atomfrage beispielsweise hat die deutliche Mehrheit unseres Volkes gerade ihr vitales Interesse durchgesetzt und im Ergebnis die rot-grüne Ausstiegsentscheidung von 2002 wiederhergestellt. Darüber sprachen wir ja bereits. Und zum Migrationsthema und den Gründen für die hohe Aufmerksamkeit, die Sarrazins Werk gefunden hat, habe ich mich ja auch bereits geäußert.

    Ihre Frage verleitet mich aber dazu, etwas grundsätzlicher auf die Entwicklung der Migrationspolitik in den letzten Jahren einzugehen. 2000 und 2001 habe ich in der Unabhängigen Zuwanderungskommission mitgewirkt. Rita Süßmuth war Vorsitzende, ich war stellvertretender Vorsitzender; wir haben ganz manierliche Arbeit geleistet. Das war eine Zeit, in der der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber noch gesagt hat: »Deutschland ist kein Einwanderungsland.« Dann hat es einige Zeit gedauert, bis es hieß: »Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland.« Und heute sagt auch die bayerische Staatsregierung: »Natürlich brauchen wir die Zuwanderung von Fachkräften.« Wir haben also auf diesem Gebiet eine wahrnehmbare Entwicklung. Ebenfalls hat die Zahl derer zugenommen, die mit türkischem Namen in den vorderen Rängen der Politik eine Rolle spielen. Da nenne ich nur Cem Özdemir als Vorsitzenden der Grünen. Oder Aygül Özkan und Bilkay Öney als Landesministerinnen türkischer Abstammung. Zudem gibt es jetzt in der Person von Herrn Rösler einen FDP-Chef vietnamesischer Abstammung. Man kann doch nicht sagen, dass das alles gegen den Willen des Volkes geschehen ist und deshalb Proteste hervorgerufen hätte. Noch ein weiteres Beispiel, das ich schon angesprochen habe. Was hat denn Heinz Buschkowsky aus der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln gemacht? Die Rütli-Schule war doch ein Musterbeispiel für die Sarrazinsche Katastrophendramatik. Heute ist allgemeine Meinung, dass die Rütli-Schule ihre Probleme in einer vorbildlichen Weise gelöst hat. Also: Ich negiere das von Ihnen angesprochene Problem keineswegs. Aber ich wehre mich dagegen, dass die tatsächlichen Fortschritte ganz aus dem Blick verschwinden und stattdessen Hoffnungslosigkeit, ja, Verzweiflung ausgebreitet wird.
    Â 
    Von wem? Sie argumentieren mit Fakten und ich mit dem Gefühl einer kaufkräftigen Mehrheit, die offensichtlich einen antiparlamentarischen Reflex pflegt, der sich in niedrigen Wahlbeteiligungen niederschlägt, in einer sehr weit verbreiteten Kultur des Protestwählens, in der Zahl der Parteiaustritte, auch der Austritte aus anderen Institutionen. Wenn man das alles zu einem Bild zusammenfügt – da muss man sich fragen, ob unsere demokratische Grundverfassung noch in Ordnung ist.

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    Sicher muss man das alles in ein Gesamtbild einordnen. Dazu muss man aber zunächst einmal die einzelnen Punkte näher ansehen. Ja, die Parteien verlieren Mitglieder. Das ist aber insbesondere die Folge einer starken Individualisierung. Da gibt dann nicht mehr, wie weithin früher einmal, das Milieu, in dem einer aufwächst und lebt, den Ausschlag für sein politisches Verhalten und seine Parteizugehörigkeit. Das gilt nicht nur für die Parteien. Das betrifft die Kirchen oder die Gewerkschaften ebenso.
    Â 
    Das macht es nicht besser, das macht es sogar noch schlimmer.
    Â 
    Das verbietet aber die Einengung der Frage auf die Parteien und darauf, dass Parteien- oder Politikverdrossenheit die entscheidende Ursache für die abnehmenden Mitgliederzahlen sei. Außerdem ist mir einer, der sich aus individueller Entscheidung einer Partei anschließt, lieber als einer, der einer Partei nur formal angehört, weil das dort, wo er lebt, nun einmal so üblich ist.
    Â 
    Na ja, immerhin sind es Institutionen, die demokratische Strukturen stützen!
    Â 
    Gott sei Dank tun sie das. Dennoch kann man das nicht auf die Parteien verengen. Nun zum Punkt Wahlbeteiligung – die ist in der Tat gesunken. Aber sie unterscheidet sich bisher noch nicht von der

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