Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
Vom Netzwerk:
übersetzt. Hessel wählte als Ausgangspunkt seines Essays die Stunde null nach dem Zweiten Weltkrieg, die Zeit, mit der wir uns gerade auseinandergesetzt haben. Er schildert die Ziele und Ideale der Résistance, die Eingang in die Verfassung der Französischen Republik nach dem Krieg gefunden haben. Und er sagt, diese Errungenschaften, die Gründung eines Sozialstaats, die Verpflichtung für die Menschenrechte, seien heute gefährdet. Hessel ruft dazu auf, diesen Werten wieder zur Geltung zu verhelfen, er ist der Meinung, man müsse für die ehemaligen Ideale kämpfen, sich empören, um sie zu erhalten. Teilen Sie seine Ansicht?
    Â 
    Ein Schwerpunkt seiner Kritik und seiner Empörung sind die Fehlentwicklungen des Kapitalismus, des »Raubtierkapitalismus«, wie Helmut Schmidt es genannt hat. Übrigens sprach ja auch der frühere Bundespräsident Horst Köhler von einem »Monster«. Dass die Rahmensetzung, deren der Markt bedarf, mehr und mehr vernachlässigt worden und gegen das Gebot der sozialen Gerechtigkeit immer wieder verstoßen worden sei – diese Kritik kann ich durchaus teilen. Und zwar nicht nur hinsichtlich der globalen und der europäischen Ebene, sondern seit einiger Zeit auch für die nationale Ebene.
    Dass die Menschenrechte heute in stärkerem Maße missachtet würden als früher – da bin ich mir nicht so sicher, ob er da recht hat. Sicher gibt es ein großes Defizit. Aber dagegen gibt es
doch lebhafte Proteste, sehen wir nur nach China. Da wurde immerhin einem inhaftierten Oppositionellen – Liu Xiaobo – der Friedensnobelpreis verliehen. Und weltweit protestierte man gegen die Verhaftung des inzwischen gegen Kaution wieder freigelassenen großen chinesischen Künstlers Ai Weiwei. In Nordafrika wiederum ging und geht es nicht nur um den Protest gegen korrupte Diktaturen, sondern auch um Menschenrechte, etwa um die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit und die Demokratie.
    Â 
    Hessel bezieht den Verstoß gegen die Menschenrechte vor allem auf französische Verhältnisse, auf die Diskriminierung von Ausländern, auf den sozialen Abbau.
    Â 
    Ja, in diesen Punkten mag er teilweise recht haben.
    Â 
    Ihm geht es um den Zugang zu Bildung, um Entwicklungshilfe in Zeiten der Wirtschaftskrise, um die Alterssicherung, die nicht mehr garantiert ist. Er fragt sich, warum denn niemand aufsteht und eine Revolution anzettelt.
    Â 
    Ob man dazu unter europäischen Verhältnissen wirklich eine Revolution anzetteln muss, da setze ich dann doch ein Fragezeichen. Denn die Möglichkeit, notfalls durch hartnäckigen Protest und fortgesetzte Demonstrationen Korrekturen durchzusetzen, ist in Europa – jedenfalls bei uns in Deutschland – keineswegs gänzlich ausgeschlossen. Dafür ist das Thema Kernkraft ein gutes Beispiel. Und für eine vernünftige Lösung der Pflegefrage oder für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, für die ich in Übereinstimmung mit dem Grundsatzprogramm meiner Partei seit Jahr und Tag kämpfe, braucht man keine Revolution. Da braucht man beständige Argumentation – und dann wird sich das eines Tages durchaus ergeben. Im Übrigen, bei aller Kritik: Die soziale Situation ist in unserem Land sicher an nicht wenigen Stellen ungerecht und deshalb verbesserungsbedürftig. Aber sie ist insgesamt doch so, dass mindestens 80 Prozent der Menschheit gern unter unseren Verhältnissen leben würden.
    Was Frankreich angeht: Dort will die Regierung das Ruhestandsalter
von zweiundsechzig auf fünfundsechzig Jahre heraufsetzen. Also auf ein Alter, das bei uns schon seit Jahrzehnten gilt. Wir streiten über siebenundsechzig Jahre. Die anderen von Hessel angesprochenen französischen Themen kann ich zu wenig beurteilen. Eine wirkliche Revolution scheinen sie mir aber ebenfalls kaum zu rechtfertigen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass man in Frankreich sehr gern und sehr lebhaft protestiert. Aber dann beschließt das Parlament oft genug das, wogegen protestiert worden ist, und dann ist die Sache auch wieder erledigt.
    Jetzt aber zu Ihrer Kernfrage, die für mich hinter Ihren Ausführungen steht, der Frage, welche Kräfte auf die Politik Einfluss nehmen. Ja, natürlich nehmen die wirtschaftlich Mächtigen auf die Politik Einfluss, Medienmächtige nehmen auf die Politik Einfluss. Da gibt es immer wieder Beispiele dafür, dass man nicht nur

Weitere Kostenlose Bücher