Wiedersehen in Barsaloi
Mama, rede ich nun einfach drauflos, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Ich mache ihr Komplimente über ihr gutes Aussehen. Sie hat immer noch ein volles und fast faltenfreies Gesicht. Lediglich etwas kleiner und schmaler ist sie geworden. Ihr Haupthaar ist kurz geschoren und grau, was ihre Augen noch trüber erscheinen lässt. Aufgrund der offenen Feuerstelle in der Manyatta und dem damit verbundenen Rauch hat sie wie viele Samburu Augenprobleme. Neben einigen Schichten farbiger Perlenschnüre am Hals trägt sie als Schmuck Ohrringe aus Glasperlen und Messing. An ihren Armen und Fußgelenken erkenne ich die schmalen Silberreifen von früher, die sich mittlerweile tief ins Fleisch gegraben haben. Zur Hochzeit bekam ich von Lketinga einen ähnlichen Schmuck geschenkt. Ich trug ihn so lange, bis ich schmerzhafte Wunden an den Knöcheln bekam, die monatelang nicht heilen wollten. Noch heute sieht man die Narben.
Mamas Kleidung besteht aus einem alten blauen Kanga, den sie um die Schultern gelegt hat, und einem braunen, an vielen Stellen geflickten Rock. Ich bin froh, dass ich für sie drei neue Röcke in meinem Gepäck habe. James hätte ihr von dem Geld, das wir zur Unterstützung geschickt haben, auch mal einen Rock kaufen können, geht es mir durch den Kopf. Doch solange ein Kleidungsstück noch irgendwie zusammenhält, wird es getragen, und mehr als eines kann man sowieso nicht anziehen, ist die Ansicht zumindest der Alten.
Ich trete zur Seite und so kann auch Albert die Mama respektvoll und herzlich begrüßen. Sie erinnert sich an seinen früheren Besuch und freut sich, ihn wiederzusehen. Klaus dagegen betrachtet sie etwas misstrauisch. Sie kennt ihn ja noch nicht und mit seiner Kamera sieht er für sie bestimmt etwas gefährlich aus. Bei unserer Unterhaltung übernehmen James und Lketinga die Rolle als Dolmetscher. Ich hole die frisch erstandene Decke und überreiche sie Mama. Doch statt sich zu freuen, zieht sie ein finsteres Gesicht und leicht verunsichert frage ich mich, was ihr wohl nicht passt. Es war ihr unangenehm, erfahre ich später, dass andere Leute sehen, welche Geschenke sie bekommt, weil das nur Neid und Unruhe verursacht.
Um sie aufzuheitern, suche ich in meinem Rucksack das kleine Album mit den Fotos von Napirai, das ich speziell für sie und Lketinga zusammengestellt habe. Beim Einsortieren hatte ich mit den neuesten Fotos begonnen, und je weiter man nach hinten blättert, desto jünger wird Napirai. Sofort lassen sich Mama und Lketinga nieder und schauen sich die Bilder an. Der Vater staunt über seine große Tochter und lacht: »Sie ist ja so lang wie ich.« Mama fragt bei jedem Foto, ob dies immer noch Napirai sei. Irgendwie kann sie die vielen verschiedenen Situationen, die ich bewusst ausgesucht hatte, nicht richtig einordnen. Doch je jünger Napirai auf den Fotos wird, desto lebendiger wird Mama. Mittlerweile beugen sich zehn oder mehr Köpfe über das kleine Album. Alle wollen Napirai sehen. Auch Papa Saguna, Lketingas älterer Bruder, schaut interessiert zu und lacht einmal herzlich auf, sodass ich seine tadellos weißen Zähne und die strahlenden Augen sehen kann. Als das Foto auftaucht, auf dem meine Tochter mit einigen Ziegen abgebildet ist, wird aufgeregt diskutiert. Bei den letzten Aufnahmen streicht Mama zärtlich über die Bilder und sagt: »Ja, jetzt erkenne ich das kleine Mädchen wieder, meine kleine Napirai.« Dabei lacht sie mich glücklich an. Nach dem letzten Foto klappt sie das Album zu, versteckt es unter ihrem Kanga und bedankt sich mit den Worten: »Asche oleng.«
Eine große Familie
Nun fordert James uns auf, in sein Haus zu kommen, damit er seine Familie vorstellen kann. Seine Frau habe Chai, den traditionellen, sehr süßen Tee mit Ziegenmilch, vorbereitet. Von Mamas Manyatta sind es nur etwa zwanzig Schritte bis zum Eingang seines bescheidenen Hauses. Davor tummeln sich einige Kinder, die gespannt jeden unserer Schritte verfolgen. Im Eingang erscheint eine hübsche, mollige, junge Frau. James stellt sie als seine Frau, Mama Saruni, vor. Saruni, ein dreijähriges, sehr quirliges Mädchen, ist ihre erstgeborene Tochter.
Eheleute sprechen sich bei den Samburu nie mit dem Vornamen an. Geschieht dies einmal aus Versehen, muss der Sünder dem anderen eine Ziege schenken. Vornamen gelten als etwas sehr Persönliches. Wenn ein Paar noch keine Kinder hat, nennen sie sich »mparatut« – Ehefrau und »lepayian« – Ehemann. Sobald ein Kind da ist, wird
Weitere Kostenlose Bücher