Wiedersehen in Harry's Bar
denn?«
»Lecken Sie mich am Arsch.«
Er klappte seine Aktentasche zu und erhob sich.
»Das ist nicht nett, Perry.« Seine Stimme war freundschaftlich, aber nur gerade eben so, als kostete ihn jedes Wort ein kleines bisschen seiner Würde. »Ich habe dir die Hand zur Freundschaft gereicht, und du pinkelst darauf.«
»Vielleicht habe ich mich nur in Kanonenbootdiplomatie geübt?«
»He, immer langsam, ist ja nichts passiert, oder?« Sein Grinsen war jetzt zugeknöpfter, schmaler, es schien die breiten Flächen seines Gesichts glattzuziehen. »Ganz egal, wer zahlt, wir sind an ihr dran. Das weißt du doch, oder? Wenn Zusane Zaksauskas hier lebend rauskommt, gibt es keinen Ort auf diesem Planeten, an dem sie sich vor uns verstecken kann. Sie gehört uns, ihr ganzes Leben lang.«
»Die Glückliche.«
Er schnaubte und ging auf die Tür zu. Was ihn aufhielt, war der Chirurg im OP-Kittel mit Maske und Haarnetz, der auf der Schwelle stand. Er sah zuerst Nolan an, dann mich.
»Perry?«, sagte der Doktor.
Ich stand auf und spürte mein Herz bis zum Hals klopfen. »Ja?«
»Ich habe leider schlechte Nachrichten für dich.«
Ich starrte ihn an, und Nolan starrte ihn auch an. Ich spürte, wie die Moleküle der Luft rings um uns zum Stillstand kamen.
»Wir haben getan, was wir konnten«, sagte der Chirurg, »aber sie hat nach der Operation nicht mehr das Bewusstsein erlangt. Es tut mir sehr leid.«
Nolan seufzte und schüttelte den Kopf, dann drehte er sich zu mir um. »Tut mir wirklich leid, mein Junge. Aber wie ich bereits gesagt habe: Vielleicht ist es so am besten.«
Nachdem er gegangen war, nahm der Chirurg seine Maske ab und sah mich an.
»Haben Sie nicht gesagt, dass Sie kein Arzt sind?«, fragte ich.
»Wie lautet der Spruch bei euch Amerikanern?« Erich pochte sich mit der Fingerspitze gegen die Stirn. »Schon, aber ich spiele einen im Fernsehen?«
»Dann ist Gobi …«
»Ihr Körper ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Zumindest wird er bald verschwunden sein.«
»Dann triffst du also die nötigen Vorbereitungen?«
»Ja«, antwortete Erich. »Es ist schon alles in die Wege geleitet.«
47
»We Own the Sky«
– M83
Am Tag, nachdem Gobija Zaksauskas zum zweiten Mal in ihrem Leben offiziell für tot erklärt und ihre sterblichen Überreste von Unbekannten aus dem Leichenkühlraum des Krankenhauses weggeschafft worden waren, flogen meine Mom, Annie und ich zurück in die Staaten. Mein Dad blieb in Paris, um einen späteren Flug zu nehmen. Wie viel später, das würde sich noch herausstellen. Er sagte es uns nicht, und keiner von uns fragte ihn danach.
Als wir im Kennedy-Flughafen in New York durch den Zoll gingen, blieb Mom stehen und betrachtete den Weihnachtsbaum im internationalen Terminal.
»Wir haben Thanksgiving verpasst«, sagte sie mit einer komischen Stimme, als hätte sie jetzt erst begriffen, wie weit weg wir gewesen waren. Ich wusste genau, wie sie sich fühlte. Amerika toste laut und aufgeregt in meinem gesunden Ohr, überall rannten Leute umher und riefen laut durcheinander, wurden Flüge in einem Tohuwabohu aus Krach und Informationen angekündigt. Rings um uns war die Zeit vergangen, und wir waren wieder in ihren Fluss geworfen worden, und jetzt versuchten wir, unser Gleichgewicht wiederzufinden.
Und auf einmal war Dezember.
*
In den Wochen danach verbrachten Annie und ich viel Zeit zu Hause, wir gingen ins Kino, spielten Brettspiele, packten Weihnachtsgeschenke ein und luden Weihnachtsmusik aus dem Netz runter. Selbst die allernormalsten, allerlangweiligsten amerikanischen Alltagsdinge kamen uns irgendwie beruhigend vor, als würden sie uns fest an Ort und Stelle verankern.
Von Dad war kaum die Rede. Ein- oder zweimal erwähnte ich ihn Annie gegenüber, aber sie schien nicht darüber reden zu wollen. Also ließ ich es sein. Mom meinte, sie wolle in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum kaufen, deshalb sind Annie und ich losgezogen und haben selbst einen auf dem Dach des Volvo nach Hause gebracht, als Mom bei der Arbeit war. Norrie, Caleb und Sasha kamen vorbei und halfen beim Schmücken, fädelten mit uns Girlanden aus Popcorn und Cranberries auf, weil Annie das schon immer mal machen wollte. Wir probten ein paar unserer neuen Stücke und spielten sogar einige Weihnachtslieder, mit Annie als Background-Sängerin bei »Santa Claus Is Back in Town«. Mom meinte, dass es sich gut anhört, aber sie sagte es mit einer Stimme, die nicht ganz bei der Sache war und mit der sie so
Weitere Kostenlose Bücher