Wiedersehen in Harry's Bar
von sich irgendwohin verstauen, an einen ganz privaten Ort, an den sie alle Schmerzen verbannte. Ich sah, wie ihre Finger nach dem Geländer tasteten, als sie versuchte, sich aufzurichten, um weiterzukämpfen, aber da schoss Paula abermals, und die Kugel traf Gobi ins linke Knie. Gobis Bein gab unter ihr nach, und diesmal blieb sie, mit den Handflächen nach oben und mit ausgestreckten Fingern, liegen.
Ihre Hände waren leer.
Paula kickte die Glock zur Seite und baute sich über Gobi auf. Ihre eigene Pistole zielte aus nächster Nähe in Gobis Gesicht. Aufgrund der Schüsse war mein linkes Ohr taub. Paulas Mund bewegte sich, sie stieß die Worte laut genug aus, dass ich sie beinahe verstehen konnte, etwas über ihren Vater, etwas darüber, dass jetzt alles ein Ende hatte.
»Lass sie in Ruhe«, sagte ich, konnte mich aber nicht hören, und erst dann fiel mir ein, dass Paula mich womöglich auch nicht hören konnte.
Ich stand auf.
*
Erich Schöneweiß zufolge muss die Hand, die beim Taekwondo ein Brett oder einen Ziegelstein zerschmettern will, mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zehn Metern pro Sekunde auftreffen. Um eine solche Geschwindigkeit zu erreichen, muss der Taekwondo-Kämpfer auf etwas jenseits des Objekts zielen, durch das Objekt hindurchschlagen, um das Ziel auf der anderen Seite zu treffen.
Ich zielte auf Paulas Hinterkopf.
Ich schlug ein Loch in die Nacht.
*
Als Paula zu Boden ging, geschah alles auf einmal. Die Pistole fiel ihr aus den Händen, ihr Gesicht schnappte nach vorne, knallte gegen das Geländer, flog wieder zurück und drehte sich halb zu mir um, zeigte mir den Alptraum eines Zahnarztes aus Blut und abgebrochenen Zähnen. Trotzdem war es immer noch ein Grinsen.
»Wie der Vater, so der Sohn«, sagte sie. Es hörte sich ein bisschen matschig an, aber mit meinem intakten Ohr konnte ich die Worte jetzt ziemlich gut verstehen. »Dein Dad hat sich auch immer gerne ein bisschen mit mir herumgebalgt, Perry – wusstest du das?«
Ich wollte ihr sagen, dass sie den Mund halten sollte, merkte aber, dass ich erst wieder zu Atem kommen musste. Ich hatte alles, was noch in mir steckte, in diesen Schlag gelegt, aber es hatte nicht gereicht. Noch während sie redete, kroch Paula bereits auf dem Boden umher und suchte die Pistole, entweder ihre oder die von Gobi, aber es war dunkel und die Plattform war schwarz und eins von Paulas Augen schwoll bereits zu.
»Ich fand das immer sehr lustig. Du warst viel zu aufgeregt,um mich ins Bett zu kriegen« – sie wischte sich das Blut mit dem Ärmel vom Mund – »und die ganze Zeit über habe ich alles, was ich brauchte, von deinem Alten gekriegt. Frag ihn nur, Perry. Frag ihn, wie es war. Schade nur, dass du es selbst nie erfahren wirst.«
Ich ging zu Gobi und legte die Arme um sie. Ich atmete den Geruch verbrannten Kupfers von ihren Wunden, ein tiefer, nasser, verzweifelter Geruch nach versengtem Stoff und verschmorter Haut.
»Alles ist gut«, sagte ich. »Du musst nicht mehr kämpfen.«
»Perry.« Sie schob den Mund an mein gutes Ohr. »Heb mich hoch.«
»Im Ernst?«
Sie nickte. Sie war schwer, viel schwerer als ich es in Erinnerung hatte, und der Ausdruck »schwere Bürde« kam mir in den Sinn, obwohl ich vielleicht einfach nur geschwächter war, als ich es wahrhaben wollte – höchstwahrscheinlich ist es so gewesen. Ich bekam irgendwie die Hände unter ihre Arme und zog sie hoch. Ich spürte ihren rauen, abgerissenen Atem, ich spürte, wie ihre gebrochenen Rippen im Brustkorb aneinanderschabten.
Ein paar Schritte hinter uns erhob sich Paula. Durch das Blut und die Schwellung wirkte das Feuer in ihren Augen wie der Abglanz von etwas absolut Wildem, einem grellen Schauspiel von Rache und Vergeltung, das nur sie sehen konnte. Sie hatte jetzt beide Pistolen, die von Gobi in der rechten und ihre eigene in der linken Hand.
»Tut mir leid«, sagte Paula. »Für uns beide ist hier Endstation.«
Ich merkte, wie sich Gobis Schulter anspannte. Plötzlichschwang sie ihr rechtes Bein senkrecht in die Luft und ließ es gegen Paulas Genick krachen.
Der Axe-Kick traf genau die anvisierte Stelle, direkt an der Schädelbasis, und als Paula mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug, lag in dem Aufprall mehr Gewicht dahinter, als sie zu Lebzeiten je mit sich herumgetragen hatte.
Ich schaute sie an, wie sie mit offenen Augen und leerem Blick dort im Regen lag.
Ich dachte an Gobi und legte sie langsam neben mir ab, fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar.
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