Wiedersehen in Virgin River
einen Monat im Ort gewesen war, bevor er einmal zehn Worte am Stück mit ihr geredet hatte. Eine Fremde einfach so aufzunehmen, entsprach zwar einerseits völlig seinem Charakter, war andererseits aber auch noch nie vorgekommen.
Als sie sich näherten, stand Mel auf. Die Frau schien irgendwo in ihren Zwanzigern zu sein und hatte einen dunklen Fleck auf der Wange, den sie mit Make-up zu überdecken versuchte. Den Riss in der Lippe allerdings hatte sie nicht verbergen können. Das also war das Problem, das Preacher erkannt hatte, und sie erschrak. Aber sie lächelte und sagte: „Hi. Mel Sheridan.“
Die Frau zögerte. „Paige“, sagte sie schließlich und sah sich dann nervös über die Schulter um.
„Es ist in Ordnung, Paige“, beruhigte sie Preacher. „Mit Mel können Sie sich sicher fühlen. Bei ihr ist immer alles topsecret. Darin ist sie schon richtig lächerlich.“
Mel lachte, als würde es sie amüsieren. „Nein, das ist überhaupt nicht lächerlich. Dies ist eine Arztpraxis hier, eine Klinik. Wir achten auf Vertraulichkeit, das ist alles. Ganz einfach Standard.“ Sie hielt Paige die Hand hin. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Paige.“
Paige griff nach ihrer Hand und sah über die Schulter zu Preacher. „Vielen Dank, John.“
„John?“, fragte Mel schmunzelnd. „Ich glaube, ich habe noch nie gehört, dass dich jemand John nennt.“ Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Klingt irgendwie nett. John.“ Dann sagte sie: „Kommen Sie mit, Paige.“ Und ging voraus.
Im Haus trafen sie auf Doc, der hinter dem Empfangstresen am Computer saß. Er sah nur kurz auf, nickte zur Begrüßung und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. „Das ist Doc Mullins“, erklärte Mel. „Hier entlang.“ Sie öffnete die Tür zu einem Untersuchungszimmer und ließ Paige vor ihr eintreten. Dann schloss sie die Tür und sagte: „Ich bin Krankenschwester und Hebamme, Paige. Ich kann mir Ihren Sohn ansehen, wenn Sie möchten. Also, mir wurde gesagt, Sie fürchten, er könnte Fieber haben.“
„Irgendwie fühlt er sich ziemlich warm an und besonders viel Energie hat er auch nicht …“
„Dann wollen wir doch einmal sehen“, sagte Mel munter und nahm die Sache in die Hand. Sie beugte sich zu dem kleinen Jungen hinunter und fragte ihn, ob er schon einmal beim Doktor gewesen war. Anschließend hob sie ihn auf den Untersuchungstisch, zeigte ihm das digitale Thermometer und fragte ihn, ob er wüsste, was man damit macht. Er wies auf sein Ohr, und Mel lachte erfreut. „Du bist ja ein richtiger Experte“, lobte sie ihn und nahm das Stethoskop in die Hand. „Was dagegen, wenn ich mal dein Herz abhöre?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will ja versuchen, dich nicht zu kitzeln, aber das fällt mir ganz schön schwer, denn Kitzeln macht irgendwie Spaß. Ich höre das Lachen so gern.“ Nach diesem Hinweis lachte er, aber nur ganz leise. Mel erlaubte ihm auch, erst selbst sein eigenes Herz zu hören und dann ihres. Während er damit fortfuhr, seine Brust, sein Bein und seine Hand abzuhorchen, tastete sie seine Lymphknoten ab. Sie untersuchte seine Ohren und seinen Hals, und als sie so weit gekommen war, hatte er schon angefangen, sich richtig wohl bei ihr zu fühlen.
„Wie es aussieht, könnte er einen kleinen Virus haben. Scheint aber nicht allzu ernst zu sein. Seine Temperatur ist nur leicht erhöht. Haben Sie ihm etwas verabreicht?“
„Tylenol für Kinder, gestern Abend.“
„Ah, dann ist sein Zustand ganz gut. Sein Hals ist etwas gerötet. Machen Sie mit Tylenol weiter und immer viel Flüssigkeit. Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen. Wenn es allerdings schlimmer wird, sollten Sie natürlich …“
„Dann kann also nichts passieren, wenn ich einfach weiterfahre?“
Mel zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, Paige. Wollen Sie nicht einmal von sich reden? Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, wenn ich kann.“
Sofort schlug Paige die Augen nieder, und mehr war nicht nötig. Mel wusste, worauf das hinauslief. Jahrelang hatte sie in der Krankenhausnotaufnahme einer Großstadt zugebracht und mehr als genug Opfer von häuslicher Gewalt zu Gesicht bekommen. Der blaue Fleck auf der Wange der jungen Frau, der Riss in der Lippe, ihr Wunsch, weiterfahren zu wollen … weg …
Paige hob die Augen. „Ich bin ein bisschen schwanger. Und ich habe Schmierblutungen.“
„Und einige Prellungen?“
Mit abgewandtem Blick nickte Paige.
„Okay. Möchten Sie, dass ich mir das einmal
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