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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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führte.

    Malvine betrachtete den Säugling in ihrer Armbeuge, während sie auf die junge Frau wartete, die mit dem Brief in Händen hinaufgerannt war. Sie hörte sie oben poltern.
    Ein kalter Windstoß ließ Holzasche vom Herdfeuer auffliegen, als der Kutscher, ein ländlicher, sehr robuster Mensch, lauter als unbedingt nötig von draußen kam, um einen letzten
zu verstauenden Strohkoffer zu holen. Da der Mann es offenbar in seiner Eile nicht für nötig hielt, die Tür zu verschließen, trat Malvine näher an die Wiege, um das darin schlafende zweite Kind vor der eindringenden Eiseskälte abzuschirmen.
    Was sie hier tat, in diesem von Mühlen voll gestellten Teil Berlins, tat sie allein, weil Moritz von Vredow sie darum gebeten hatte. Und obwohl er ihr das kränkende Versprechen abgenommen hatte, keine Fragen zu stellen. Doch wie oft hatte schließlich Elsa diesen herrlichen Menschen gekränkt? Es galt, einiges gutzumachen an ihm.
    Endlich nun kam jene Person, die es fortzubringen galt, die Stiegen wieder heruntergerannt und warf einen Gegenstand ins Feuer, in dem Malvine eben noch eine Schreibkladde erkannte, bevor diese in Flammen aufging.
    »Hier steht, dass ich es machen soll«, sagte sie.
    Sie hielt ihr Helenes Brief hin.
    »Nun kommen Sie schon«, sagte Malvine und seufzte. »Ich glaube Ihnen.«
    Sie war sehr verwundert über sich selbst.

TAG VIERZEHN
    Es war der Vorabend des dritten Advent, als Elsa im Königlichen Schauspielhaus das Gretchen gab, und den Berlinern trieb es die heißesten Tränen in die Augen.
    Auch Moritz, der lange darüber nachgedacht hatte, ob er Elsa, oder den Prinzen, mit ihrer gemeinsamen Wahrheit konfrontieren sollte und letztlich davon abgekommen war,
liebte sie mehr denn je, allein für das, was sie auf der Bühne vollbrachte. Allerdings musste er sich verbieten, an ihr gemeinsames Kind zu denken, denn das machte ihn unendlich traurig.
    Während er ihr zusah, und ohne dass er sich zwingen musste, vielleicht auch kraft seines Verstandes, wusste er die Erkenntnis herbeizuführen, dass ihr Talent womöglich für einen gewissen Defekt ihres Charakters verantwortlich war.
    Und Elsa im Übrigen erkannte, als sie ihn recht nah bei der Bühne in einem der rotsamtenen Fauteuils entdeckte, wie beharrlich, mit welch unerschütterlichem und doch so sanftem Willen er in diesem Jahr ihren Irrungen gegenüber Präsenz gezeigt hatte. Wie ihr das Herz überlief, gab sie gleich in ihr Spiel.
    Den Monolog des in Ketten gelegten Gretchens widmete sie eindeutig, ganz und gar nur Helene, womit sie die letzten Zweifler von ihrer Kraft zur Tragik überzeugte. So litt jeder einzelne Mensch im Theater mit ihr.
    O lass uns knien, die Heiligen anzurufen!
    Sieh: unter diesen Stufen,
    Unter der Schwelle
    Siedet die Hölle!
     
    In den Salons schwor man noch tagelang, aus der Königsloge ersticktes Weinen vernommen zu haben. Nur der König hatte, wie stets bei großen Dramen, die Flucht in den Schlaf angetreten.
    »Sie spielte einem das Herz aus der Brust und gab dem Gretchen ihre ganze verletzliche Seele«, würde Saphir später schreiben. »Was bleibt uns, als sie dafür zu lieben, dass sie uns ihren inneren Reichtum zeigte?«

    Es sollte das Schönste sein, was Elsa je zu Ohren gekommen war, allerdings - doch das würde die Bedeutsamkeit der Botschaft für sie keineswegs schmälern - erst Wochen später.

    VOSSISCHE ZEITUNG , BERLIN, 16. DECEMBER 1828
     
    (…) Nach fünfundzwanzig Vorhängen, während derer man Demoiselle Elsa Heuser und ihre Kunst feierte, fand der Abend im Schauspielhaus zu seinem wahren, unerwarteten und grausamen Höhepunkt.
    Wie sollten jene Augenblicke, als die Gemahlin Seiner Majestät des Königs, Auguste Fürstin von Harrach, die Bühne betrat, alles in schwärzesten Schatten stellen!
    Um Demoiselle Heuser ihre tiefe Verehrung und Anerkennung auszudrücken, hatte die Fürstin sich - durch die Kulissen geleitet vom Intendanten - auf die Bühne begeben, da es ihr Wunsch war, der Gefeierten eine goldene Kette umzulegen, die sie eigens für sie in Dresden hatte anfertigen lassen.
    Vor den Augen aller, die im Parkett und in den Logen dieser Geste mit frenetischem Beifall huldigten, gelangte aus den Kulissen der gegenüberliegenden Seite unversehens ein Mensch auf die Bühne, der seinem Gehstock ein langes Messer entriss.
    Mit einem Aufschrei wie aus einer einzigen Kehle hob es das Publikum aus den Sitzen, als der Mann - kleinwüchsig, in Livree und mit einem Buckel gestraft - in

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