Wiegenlied Roman
unteren Teil der Hinterhauptgegend, die rechte auf der winzigen Stirn. Die unteren Extremitäten zeigten sich in den Gelenken gebeugt, die Knie befanden sich bei den Schläfen, die Fußsohlen den Hinterbacken genähert. Nach Durchschneidung der Eihüllen kam eine namentlich an den behaarten Teilen des Kopfes angehäufte feste Substanz zum Vorschein, die Apotheker Klemm bei der chemischen Analyse seines versteinerten Geschwisters als Gemenge aus phosphor- und kohlensaurem Kalk benennen würde. Die Haupthaare waren lang, wie man sie zuweilen bei Ungeborenen trifft. Es war ein Kind weiblichen Geschlechts, das Rosalie beinahe vierzig Jahre lang in sich getragen hatte.
Elsa befand sich indessen, dem besonderen Wunsch der Fjodorowna folgend, vollständig genesen auf der Reise an den Zarenhof nach Petersburg, wo man ihrem Gastspiel mit höchsten Erwartungen entgegensah. Derzeit, auf der langwierigen Kutschfahrt durch die fremden, eisigen Landschaften, war sie glücklich darüber, Moritz an ihrer Seite zu haben. Es machte die Schönheit seines Charakters aus, dass er alles sehr ernst nahm. Vielleicht war es unvorsichtig gewesen, ihm auf der Bühne des Königlichen Theaters, als er sie in seinen Armen hielt, das Versprechen abzunehmen, sie niemals mehr zu verlassen. Schließlich hatte ein Wahnsinniger sie soeben niedergestochen, und sie glaubte sterben zu müssen, endgültig diesmal. Vielleicht jedoch, dachte Elsa, als sie, in Pelze gehüllt, an seiner Schulter schläfrig wurde, vielleicht konnte
sie sich einfach daran gewöhnen, dass er niemals aufgeben würde.
Auch Sidonie war sich über manches nicht sicher, etwa darüber, ob es ihr tatsächlich gefiel, sich mit den Kindern unter dem strengen Schutz der Cecilie von Vredow zu befinden, die - wie es schien - das gesamte verdammte Tugendreglement auswendig kannte. Während es sie erleichterte, dass die Hausdame des imposanten Gutes, eine spröde Frau namens Schröder, sich im Besonderen des kleinen Petja annahm, wusste sie hingegen nicht sehr genau, ob sie es weiterhin erstrebenswert finden sollte, eine Dame zu werden. Es schien ihr recht mühsam und weit weniger aufregend, als sie es sich vorgestellt hatte. Aufregend hingegen waren die sengenden Blicke des Gutsverwalter-Sohnes, die ihr schon die eine oder andere schlaflose Nacht bereitet hatten.
Am letzten Tag des Monats Januar heirateten Helene und Finlay in einer kleinen, sehr privaten Zeremonie. Vorerst würde ihr Eheleben aus einer Reihe von Reisen und Abschieden bestehen. Denn Finlay hatte man in London die Leitung der Gebärabteilung des Guy’s Hospital übertragen, wohingegen Helene damit begonnen hatte, bei Professor Hähnlein ihre Doktorarbeit über das Steinkind der Rosalie Klemm zu schreiben. (Selbstredend würde ihre Promotion rein formalen Charakters sein.)
Auf welche Weise sich ihr gemeinsames Leben gestalten würde, stand in den Sternen. Somit befanden sich ihre
Geschicke in unmittelbarer Obhut ihrer vorbildlichen Eltern.
Immer wenn Helene von ihrem Bett in Köpkes Mansarde in den Himmel über Berlin blickte, hatte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass alles, was sie mit Finlay verband, sie glücklich machen würde.
Dank an
Marion Maria Ruisinger
Thomas Schnalke
Matthias David
Yvonne Schwittai
Brigitte Lößl
Heike Lutter
Betty Auer
Waltraud Pulz
immer an
Britta Hansen
Barbara Raschig
Gesine & Stefan Cantz
sowie im Besonderen an Stefan Fischer
Copyright © 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Barbara Raschig
Herstellung: Gabriele Kutscha
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