Wiegenlied Roman
war, wurde er zugelassen, zumal seine Anwesenheit für die medizinischen Details der Vernehmung hilfreich sein konnte.
Was Hähnlein mit anhören musste, bestürzte ihn vor allem, weil es die Geschichte eines chancenlosen Mannes war.
Simon Reichel, der ohne seine Vermummung harmlos, ja vollkommen unauffällig aussah, an dem Hähnlein erstmalig die Augenfarbe (Grau) bemerkte und dass sein dunkelblondes Haar ihm bis in den Kragen fiel, gab über sein Leben zu Protokoll, dass er vor dreiundzwanzig Jahren in Berlin
als unehelicher Sohn einer Näherin und eines Medizinstudenten geboren worden war.
Seine Mutter, berichtete Reichel, schuftete sich die Finger blutig, damit ihr Sohn die Pfarrschule besuchen konnte, und dass er sich als guter Schüler erwies, sah sie als Erbe seines Vaters an. Der Pfarrer versuchte ihn im Grauen Kloster unterzubringen, doch an der renommierten Lehranstalt für das gehobene Bürgertum zeigte man kein Interesse daran, ein begabtes Kind aus den Armenvierteln Berlins zu fördern.
Der freundliche Pfarrer vermittelte ihm eine Lehre als Apothekengehilfe, wo Simon das Lesen von Ärztehandschriften und medizinisches Vokabular erlernte. Er las sich durch die Bibliothek des Apothekers und absolvierte eine mustergültige Prüfung. Für seine Verhältnisse war er weit gekommen. Er hätte zufrieden sein können. Doch er war es nicht.
Simon Reichel konnte den Traum, wie sein Vater zu werden, nicht aufgeben, und so suchte er die Nähe zu Ärzten. Dies gelang ihm am besten in der Charité. Er verdingte sich als Anatomiediener im Totenhaus. Alles, was er lernen konnte, saugte er begierig auf und schrieb es akribisch nieder.
Die Ärzte lernten ihn wegen seiner Sorgfalt schätzen, und Simon Reichel träumte wieder davon weiterzukommen.
Während der Semester gab er sein Gespartes her, um sich bei einer Frau, die man an der Königsmauer als Schottische Marie kannte, einen Anzug zu leihen. Er mischte sich unter die Studenten und besuchte die Vorlesungen an der Universität. Niemand fragte ihn etwas, und damit sich niemand an ihn erinnern würde, gewöhnte er sich an, bei der Arbeit im Totenhaus ein schwarzes Tuch über Mund und Nase zu tragen.
Zu Beginn des Jahres hörte er den Habilitationsvortrag des jungen Siebold, was ihm den Impuls gab, sich mit der künstlichen Frühgeburt zu befassen. Er beschaffte sich alles, was es darüber zu lesen gab, und sparte für die Instrumente. Der Drang, sich auszuprobieren, wurde immer stärker. An den weiblichen Leichen der Charité machte er sich mit Anatomie vertraut. Er fühlte sich fähig. Er hielt sich für begabt.
Das Schicksal wollte es, so gab Simon Reichel es wörtlich zu Protokoll, dass er eines Tages beim Verlassen der Universität zwei Studenten darüber reden hörte, dass eine junge Schauspielerin jemanden suchte, der einer Freundin behilflich sein konnte. Er hörte mit, wo sie sich mit der Kleinen treffen würden - um ihr Gesuch abzulehnen und doch ihren Spaß mit ihr zu haben -, und sobald sie allein auf dem Weg nach Hause war, sprach er sie an.
Seinen ersten sowie drei weitere Eingriffe nahm er im Haus einer Bordellwirtin vor, mit der er im Leihhaus der Schottischen Marie bekannt geworden war. Es lag ihr an allem, woran sie verdienen konnte. Wohl deshalb, sagte Simon Reichel, nannte man sie die kalte Pauline. Sie führte ihm die Frauen zu, bis auf die erste, bei der es sich um eine Dame der Gesellschaft gehandelt haben musste, was ihn auf der Stelle in Schwierigkeiten brachte, denn die kleine Habermann (der Name fiel ihm an dieser Stelle seines Berichtes wieder ein) fing ihn an der Universität ab und machte ihm Vorwürfe, weil ihre Freundin, wie sie behauptete, nahezu ums Leben gekommen war. So brachte er sie um ihres. Er fing sie ab, als sie nach den Proben das Theater verließ. Er folgte ihr durch den Tiergarten, bis sich eine Möglichkeit ergab. Ihre Leiche vergrub er mit den Händen bei den Rhododendren
nahe der Luiseninsel, denn er musste weitermachen.
»Warum?«, fragte einer der entgeisterten Kriminalkommissare. »Wie lange hatten Sie vor, damit fortzufahren?«
Bis er die Traktion vollkommen beherrschte.
Auch Hähnlein bat sich eine Frage aus.
»Was brachte Sie auf den Gedanken, ausgerechnet Helene Heuser an allem die Schuld zu geben?«
Zum ersten und zum letzten Mal - bevor er Wochen später zum Tod durch den Strang verurteilt wurde - sah man Simon Reichel die Nerven verlieren. Sie an der Seite ihres Vaters bei den Sektionen beobachten zu
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