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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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wahrhaftig mit Wichtigerem zu befassen. Du könntest beispielsweise damit beginnen, seine Briefe zu verbrennen. Und was
die Perlen angeht, Elsa, so rate ich dir, sie umgehend zurückzuschicken. Du hättest es sofort tun müssen.«
    Als Antwort kam tränenerstickt aus den Kissen, dass sie die Briefe zu opfern bereit sei, aber noch nicht sofort und heute. Das Zurücksenden der Perlen, schluchzte sie, könnte als Affront aufgefasst werden, was sie unter allen Umständen vermeiden wollte.
    »Es gibt schlimmere Affronts als den Hinweis darauf, dass wenigstens deine Würde intakt geblieben ist«, sagte Malvine. »Wenn du die Perlen partout nicht zurückgeben willst, dann spende sie meinethalben der Witwenversorgungsanstalt oder einem Waisenhaus - aber werde sie los!«
    Die Locken standen ihr um den Kopf wie das Flittergold eines Rauschengels, als Elsa ruckartig aus den Kissen hochkam.
    »Einem Waisenhaus? Warum hast du das gesagt?«
    Erneut ergoss sich eine Flut von Halbsätzen aus ihr, deren Aussage Malvine nicht zu erfassen wusste, da es sich um fremde Frauen von Stand, geheimnisvolle Abmachungen, Begegnungen und Vorgänge handelte, die keinesfalls in Worte gefasst werden durften.
    Malvine stand auf. Sie begann auf und ab zu gehen, während sie vergeblich den Sinn hinter dem Gestammel zu erfassen suchte.
    Sie unterbrach Elsa erst, als Helenes Name fiel.
    »Du wirst nicht umhinkommen, deine Schwester im Gefängnis aufzusuchen«, sagte sie. »Denn wenn du dich, wie ich vermute, dafür verantwortlich fühlst, dass sie dort gelandet ist, weißt du möglicherweise auch etwas, das ihr helfen kann, diesem Albtraum schnellstmöglich zu entkommen.«

    Elsa starrte sie an wie eine Irre.
    »Das ist ausgeschlossen, Malvine, du verstehst das nicht!«
    »Allerdings kann ich nicht verstehen, dass du Helene nicht helfen willst.«
    »Ich kann dort nicht hingehen«, flüsterte Elsa. »Das wäre viel zu gefährlich.«
    »Gefährlich? Für wen? Für sie oder für dich?«
    »Für uns beide, und für noch jemanden.«
    Malvines Kopfschmerz raste einer kapitalen Migräne entgegen.
    Warum nur hatte sie das hässliche Gefühl, dass Elsa allein um ihren Ruf fürchtete?

TAG NEUN
    Die schlaflose Nacht auf der harten Pritsche ihrer Zelle hatte Helene damit zugebracht, alle Fragen, die man an sie gerichtet hatte, in einer endlosen Reihe an sich vorüberziehen zu lassen. Zuweilen tauchten die Gesichter der Männer, die sie befragt hatten, aus der Dunkelheit auf, lautlos wiederholend, was sie von ihr wissen wollten.
    Zunächst war man ihr mit einer gewissen Ratlosigkeit begegnet, denn man hatte keine Erfahrung mit einer Delinquentin wie ihr, man kannte sich aus mit Vagabundinnen, Diebinnen und Huren, mit Kupplerinnen und Kindsmörderinnen allenfalls. Eine gebildete Bürgerstochter hingegen, mit allen zu erwartenden Manieren ausgestattet, stellte sie vor weitgreifende Rätsel. Eine geprüfte Hebamme, die Privatunterricht bei Universitätsgelehrten erhielt, um mit eingeschränkter
Genehmigung des Ministeriums für Medizinalangelegenheiten die Doktorenwürde zu erlangen, war ihnen suspekt. Sie trauten ihr alles zu, besonders nach dem, was in ihrer Hebammentasche zu finden gewesen war.
    Im Bureau des Polizeiintendanten, der persönlich das erste Verhör geführt hatte, legte man die Beweisstücke ihrer Schuld auf den Tisch. Man ließ sich die Gegenstände, bei denen es sich, neben den üblichen Inhalten einer Hebammentasche, um eine silberne Sonde zur Sprengung von Eihäuten und Pressschwämme unterschiedlicher Größe handelte, eingehend erläutern. Man fand sie gut informiert. Dass sie nicht erklären konnte, wie jene Dinge in ihre Tasche kamen, glaubte man ihr ebenso wenig wie die fadenscheinigen Begründungen dafür, warum sie Säuglingswäsche aus den Schränken der Charité entwendet hatte.
    Geschwächt von den pausenlosen Verhören, die sich bis in die späten Abendstunden fortsetzten, beschwor Helene des Nachts immer wieder die Erinnerung an den Morgen, als sie die Sonde unbemerkt in den Instrumentenschrank zurückgelegt hatte.
    Von drängendstem Interesse war für die Männer, wie sie, die Hebamme Helene Heuser, Gelehrtentochter - man kondolierte ihr hastig und verlegen, um anschließend strenger zu werden - und, das wussten die Theatergänger unter ihnen, Schwester der Hofschauspielerin Demoiselle Elsa Heuser, wie sie die Huren gefunden hatten oder aber die Huren sie.
    »Fragen Sie Blunck«, hatte Helene gesagt und sehnte sich danach, dass er

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