Wiener Requiem
für eine Frau eine sehr schwierige Kombination.«
»Und was hältst du von ihrer Geschichte?«
Berthe nahm Notizbuch und Stift auf. »Sie hat eine lebhafte Phantasie, soviel ist sicher. Aber immerhin gibt es da auch eine tote Sopranistin, nicht wahr?«
»Du meinst also, wir sollten die Sache weiter verfolgen?«
»Was ich denke, zählt nicht wirklich, oder? Du hast es dem Mädchen so gut wie versprochen. Und das obendrein noch ohne Honorar.«
Werthen kam sich plötzlich vor wie ein Narr. »Ja, das habe ich wohl.«
Berthe trat zu ihm und legte ihre warme, weiche Hand an seine Wange.
»Mach dir keine Gedanken, Karl. Ich bin sicher, sie hat auch schon ganz andere Männer bezirzt.«
Werthen und seine Frau aßen in einem ihrer Lieblingsbeiseln zu Mittag, das nur ein paar Schritte vom Büro entfernt lag. Die
Alte Schmiede
war ein einfaches, gemütliches Lokal mit einem täglich wechselnden Mittagstisch. Heute gab es Leberknödelsuppe und als Hauptgericht scharfes Gulasch mit neuen, gedämpften Kartoffeln. Sie tranken einen Rotwein aus dem Burgenland zu ihrem Mahl, verzichteten aber auf den Nachtisch. Stattdessen saßen sie noch eine Weile bei einer Tasse Kaffee, ließen den Morgen Revue passieren und planten den Nachmittag.
Nachdem Fräulein Schindler gegangen war, hatte sich Werthen entschieden, den Fall anzugehen, und in der Hofoper angerufen, um mit dem Dirigenten persönlich zu sprechen. Mahler sei heute zu Hause, wurde ihm mitgeteilt, da er unter Halsschmerzen leide. Er bat um Mahlers Privatnummer, und sein Anwalttitel genügte, um diese zu erhalten. Sein Anruf wurde von Justine Mahler, einer der Schwestern des Musikers, entgegengenommen. Sie war seine Haushälterin und, wenn man bedachte, wie hartnäckig sie Werthen nach dem Grund seines Anrufs befragte, wohl auch seine Leibwächterin. Er betonte die Wichtigkeit und den privaten Charakter des gewünschten Treffens – und schließlich wurde ihm eine Audienz für zwei Uhr am Nachmittag gewährt.
»Gustav sollte zu dieser Zeit seinen Mittagsschlaf beendet haben«, sagte die scharfe Stimme am anderen Ende. »Wenn nicht, werden Sie warten müssen.«
Er verabschiedete sich von Berthe, die zu ihrer nachmittäglichenArbeit im Kindergarten in Ottakring aufbrach. Der Tag war perfekt für einen Spaziergang: Es wehte eine leichte Brise, die Wolken zogen hoch und schnell über den strahlend blauen Himmel. Die Stadt wirkte wie von Belotto gemalt. Werthen war mit sich und der Welt im Reinen, als er die friedlichen, gepflasterten Straßen des Inneren Bezirkes entlangschlenderte. Er hatte alles, was er zurzeit brauchte: die Liebe einer guten Frau, eine Mahlzeit im Bauch, einen schönen Tag zum Spazieren, und am Ende wartete vielleicht noch ein neuer Fall auf ihn.
Mahlers Wohnung lag ganz in der Nähe der Ringstraße, in der Auenbruggerstraße. Eine kurze Gasse, die zum Rennweg führte, dem Viertel der Diplomaten, nahe beim Belvedere. Als Werthen den Weg zum Schwarzenbergplatz nahm, erinnerte er sich an jenen Morgen, an dem er mit seinem alten Freund, dem Kriminologen Hanns Gross, diesen Palast verlassen hatte, wo sie die ungeladenen Gäste des Erzherzogs Franz Ferdinand gewesen waren.
Tatsächlich lag Mahlers Wohnung genau an der Ecke zum Rennweg, nur ein paar Schritte vom
Unteren Belvedere
entfernt. Der Wohnblock war von Otto Wagner gebaut worden und zeigte schon an der Fassade die Handschrift der frühen Periode des Architekten: zurückstehende dekorative Vertäfelungen an den Ecken, und die gleichen Ornamente wiederholten sich als Fries unter den Fenstern des dritten und vierten Stockwerkes.
Da es ein modernes Gebäude war, gab es einen Fahrstuhl, und Werthen entschied sich auch, ihn zu nehmen; er spürte sein verletztes Knie nach dem Spaziergang deutlich. Die Tür wurde nach seinem zweiten Klopfen von einer weiblichen Version des Dirigenten geöffnet. Auch ihr Haar war widerspenstig und eher dünn, sie hatte eine Habichtsnase, und die Augenwirkten etwas verschleiert und gemahnten an ein Raubtier. Sie trug eine breite Krawatte über ihrer cremeweißen Bluse, einen breiten weißen Gürtel und einen Tellerrock aus grobem Leinen.
»Sie müssen Herr Werthen sein«, sagte sie.
»Ja.« Werthen war sich nicht sicher, wie er sie anreden sollte, vielleicht mit
Gnädige Frau
? Es gab eine ungeschriebene Regel, nach der Frauen jenseits der dreißig nicht länger als
Fräulein
, sondern als
Frau
angesprochen wurden. Er entschied sich dann jedoch für einen kurzen
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