Wienerherz - Kriminalroman
wären, kaum. An Florian Dorin konnte er sich nicht erinnern. Bilder zeigten einen Mann, der dem Toten sehr ähnlich sah. Ende dreißig, am guten Aussehen änderte auch das leichte Übergewicht wenig, die aschblonden Haare fielen vom Mittelscheitel in zwei schwungvollen Wellen beiderseits des Kopfs hinten fast bis ins Genick. Freund meinte sich zu erinnern, dass der Mann im Wagen kürzere Haare gehabt hatte. In einer Aufnahme posierte er neben dem Auto, in dem man ihn heute gefunden hatte. Die Texte schrieben entweder von Investor oder Geschäftsmann. Viele Bilder zeigten ihn mit Prominenten, wichtigen Wirtschaftstreibenden, Politikern, auf der Jagd, beim Segeln, Golfspielen, bei Oldtimerrallyes. Auch die Namen der Brüder und des Vaters tauchten auf, allerdings seltener. Wie es schien, besaßen sie einige Firmen, sein Bruder Leopold Dorin leitete eine Bank, Kertmann & Dorin. Freund fand eine Telefonnummer und kam bis zu Leopold Dorins Vorzimmerdame. Ja, Herr Dorin sei heute Vormittag im Haus, habe aber Termine.
»Einen mit mir«, sagte Freund und legte auf.
Lia Petzold hatte den ersten Papierkram ihrer nächtlichen Fälle erledigt. Ein paar Beteiligte der tödlichen Messerstecherei waren bereits verhaftet, der mutmaßliche Haupttäter aber noch nicht. Wahrscheinlich war er längst auf dem Weg zu einem Cousin in Deutschland oder anderen Verwandten sonst wo in Europa.
Sie wählte Doreens Nummer. Seit dem Anruf wegen Florian Dorin vor zwei Wochen hatte Petzold nichts mehr von ihrer ältesten und besten Freundin gehört. Das war nicht ungewöhnlich, Doreen flog gern in der Weltgeschichte herum, ohne sich abzumelden.
Am anderen Ende meldete sich die Mailbox.
»Lia hier«, sagte Petzold. »Wollte nur Hallo sagen. Bis bald einmal.«
Von Wohlstand, dessen Bewahrung und Mehrung
An der Innenstadtadresse stand Freund vor dem prunkvollen Portal eines kleinen Palais aus der Gründerzeit. Eine dezente Messingtafel teilte ihm mit, dass er an der richtigen Adresse war: Bankhaus Kertmann & Dorin. Er läutete, musste sich in eine Sprechanlage vorstellen und wurde eingelassen.
»Links, mit dem Fahrstuhl in die erste Etage, bitte«, erklärte eine metallische Frauenstimme.
Vom großzügigen Eingang führten zu beiden Seiten Treppen ab, geradeaus lag ein gepflasterter Hof.
Im ersten Stock erwartete ihn eine Mittvierzigerin in Kostüm.
»Herr Dorin ist in einem Termin.«
»Sagen Sie ihm, dass dieser Termin wichtiger ist«, sagte er und zeigte ihr seinen Ausweis.
Bestürzt bot ihm die Frau einen Platz in einem modernen Lederfauteuil an und verschwand.
Hohe Fenster und Flügeltüren, getäfelte Wände, Deckenfresken. Als Kontrast zeitgenössische Designermöbel, schlicht und elegant. Botschaft: traditionell, aber nicht verschlafen. Freund durchblätterte ein schmales Büchlein, von dem ein paar Exemplare auf dem Tischchen vor ihm lagen. Es stellte das Bankhaus Kertmann & Dorin vor, gegründet 1887 von Charles Kertmann und Claus Dorin. Schwarz-Weiß-Fotografien zeigten zwei ehrwürdige Männer mit weißen Bärten und steifen Krägen. Mittlerweile gehörte die Bank zur Gänze der Familie Dorin. Organisiert war sie als Aktiengesellschaft. Freund, der keine nennenswerten Barschaften besaß, hatte sich mit derlei Dingen nie genauer auseinandergesetzt, als sein Beruf es verlangte. Offenbar ging es den meisten möglichen Kunden der Bank nicht viel anders. Auf jeden Fall gab sich das Büchlein erfolgreich Mühe, die Geschäfte und Leistungen des Instituts so zu erklären, dass auch Freund sie verstand. Vielleicht beschrieb es aber auch nur jenen Teil des Geschäfts, der Laien begreiflich zu machen war. Von Aktien war die Rede, von Anleihen, Fonds, Stiftungen, von Risikominimierung und Profitoptimierung, von einer Tochtergesellschaft, die mit eigenem Kapital und jenem von Kunden, die das gern wollten, in Unternehmen investierte, von Wohlstand, dessen Bewahrung und Mehrung, von Diskretion und natürlich von der langen Tradition des Hauses. Dazu servierte das Schriftstück Bilder des Palais, von ernsthaft blickenden Frauen in Kostümen und Männern in Anzügen, die Kunden berieten, und vom Management.
Leopold Dorin besaß wenig Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Sein Gesicht war mager, dafür der Mund auffällig breit, als könnte man am Kiefergelenk den Oberteil des Kopfes nach hinten klappen, die Stirn reichte bis zum Scheitel, der verbliebene Haarkranz erinnerte Freund an einen Mönch. Auf dem Bild trug er eine rahmenlose Brille mit
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