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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Nase. »Es ist nur Wasser.«
    »Aber …«
    Sie ließ das Tuch sinken. Ihr Lächeln war verschwunden, aus ihren Augen strahlte kein Glück. »Ich habe es weggegossen, Pi. Nachts, als du geschlafen hast. Ich habe das Gegenmittel weggekippt. Ich wusste doch nicht, dass du dazu fähig bist, Lucky so etwas anzutun.«
    Sie sah ihn lange an, und er erwiderte ihren Blick, ohne sich zu rühren. Moon zuckte zusammen, als er den Arm um meine Schultern legte.
    Ich spürte seinen warmen Atem an meinem Ohr. »Hey«, flüsterte er. »Das ist fast wie in einem Theaterstück.«
    »Du bist nicht im Glücksstrom«, sagte ich zu Moon, und meine klaren Gedanken waren wie Ertrinkende, die in der reißenden Strömung nach Halt suchten.
    Die alberne, fröhliche, verständnisvolle Moon war nie so schön gewesen wie diese hier. »Nicht mehr seit meinem Gespräch mit Truth Mozart«, sagte sie. »Ich sollte die Wahrheit über Savannah herausfinden, aber du bist wirklich ein zäher Brocken, Pi. Es schien keinen anderen Weg zu geben als diesen – dass du zurück in die Wildnis gehst.«
    »Aber du wolltest verhindern, dass ich jemals zurückkomme.«
    »Savannah ist mir egal«, sagte sie kühl. »Aber Lucky nicht.« Wie hart ihr Gesicht wirken konnte, wie tödlich ihr Blick. Auch sie hatte die Augen einer Jägerin. »Hör mir zu, Pi. Ich habe eben versucht, Dr. Händel anzurufen, damit er Lucky rettet, bevor die Behörden euch abholen. Aber ich konnte ihn nicht erreichen. Ich wollte dich reinlegen, aber wie es scheint, bin ich selbst reingelegt worden. Dr. Händel arbeitet im Bio-Institut, aber er ist gar nicht in der Forschungsabteilung. Er verpackt bloß die Proben. Sie haben ihn nach dieser Sache mit euch aus der Schule geworfen, und jetzt steht er am Fließband.«
    Erst jetzt wurde mir das ganze Ausmaß des Betrugs klar. Die Präparate an der Schule hätten gereicht, ich hätte nie das echte Morbus Fünf nehmen müssen. Felix wünschte mir, dass ich entkam, aber Dr. Händel hatte sich nur rächen wollen. Hatte das zweite Fläschchen überhaupt je etwas anderes als Wasser enthalten?
    Aber ich lächelte trotzdem tapfer weiter. Niemand wusste etwas von meinem Trumpf, von Alfred, der Lucky und mich heilen konnte. Fünf Tage hatten wir, um ihn zu erreichen. Für mich waren es noch viereinhalb.
    »Das werde ich dir nie verzeihen«, sagte ich zu Moon, damit ihr nicht auffiel, dass ich keine Angst hatte. Luckys verschwitzte Finger verflochten sich mit meinen.
    »Dies ist unser Abenteuer«, sagte er. »Du darfst uns jetzt gerne allein lassen, Moon.«
    »Oh, so schnell entkommt ihr mir nicht«, sagte sie und verzog höhnisch die perfekt geformten Lippen. »Ich bin nicht Julia. Ich werde mir kein Messer in die Brust stoßen, weil mein Geliebter dem Tod geweiht ist. Wollt ihr nicht wissen, was ich stattdessen getan habe? Nachdem ich Dr. Händel nicht erreichen konnte, habe ich deinen Vater angerufen, Pi. Es gibt tatsächlich ein Heilmittel. Er ist schon unterwegs. Lucky gehört mir, und das wird auch so bleiben.«
    Damit war mein Fluchtplan gescheitert – und ihre Hoffnung, mich loszuwerden, ebenso. Ich hob den Kopf und betrachtete Moons wildes, verzweifeltes Lächeln, das Gesicht der wahren Moon. Die fröhliche, alberne, glückliche Moon der vergangenen Wochen – nichts als eine Theateraufführung.
    Wir hatten beide umsonst gekämpft. Erst in diesem Moment begann ich sie zu hassen.

36.
    Die Stunden ziehen sich qualvoll in die Länge. Ich hätte erwartet, dass sie schnell vorübergehen, wenn man nur noch so wenig Zeit hat. Womit ich nicht gerechnet habe, ist der Schmerz.
    Er erfasst meinen ganzen Körper. Strahlt von meinem hämmernden Kopf bis in meine Füße, die sich nicht bewegen wollen, die mein Gewicht nicht mehr tragen können. Ich schwanke, stütze mich an der Liege ab, torkele zur Tür. Sie ist aus Metall, schalldicht. Draußen hört man nicht, wenn ich rufe. Die kleine Öffnung, durch die ab und zu ein Auge späht, ist seit Stunden geschlossen.
    »Komm zurück«, sagt Lucky. »Es hat keinen Zweck.«
    Er ist so gefasst. So ruhig. So tapfer. Kein einziger Vorwurf. Manchmal fasst er sich an den Mund, als könnte er dort noch immer den Kuss spüren. Vielleicht ist er aber auch bloß zu schwach, um zu kämpfen.
    Mein Vater ist nicht gekommen. Vielleicht ist er nur ein paar Minuten später in der Schule eingetroffen als der Wagen des Glücksministeriums, vielleicht hat Moon ihn auch nie angerufen. Vielleicht war das ihre letzte Rache: Mir Hoffnung

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