Wild wie das Meer (German Edition)
bis das Kind zur Welt kommt“, sagte Tillie mit erhobener Stimme.
„Mein Ehemann ist vielleicht tot“, erwiderte Virginia leise. Sie stand auf und suchte am Bettpfosten Halt. Gram und Furcht bemächtigten sich ihrer mit aller Macht, doch sie kämpfte dagegen an. Mit entschlossener Stimme fügte sie hinzu: „Du kannst mit mir kommen oder hierbleiben. Aber ich mache mich auf den Weg, Devlin zu suchen, und niemand wird mich daran hindern.“
Es war ein greller, heißer Nachmittag, und über der ganzen Stadt lag der Geruch des Todes. Bussarde kreisten am Himmel, unablässig auf der Suche nach Aas. Die Briten waren abgezogen, kein Kriegsschiff lag mehr in der Bucht, und unten im Hafen dümpelte ein gekentertes Fischerboot. Inzwischen war die reguläre amerikanische Armee eingetroffen und hatte ein notdürftiges Lager aufgeschlagen. Am Stadtrand waren ein Feldlazarett und ein Gefangenenlager errichtet worden.
Angst und Erschöpfung schwächten Virginias Schritte, und daher stützte sie sich beim Gehen auf Tillies Arm. Frank blieb hinter den Frauen. Ständig schaute er sich wachsam nach allen Seiten um, als rechnete er damit, dass die Horden marodierender Soldaten erneut über sie herfallen könnten.
Doch je näher sie dem Lager kamen, desto entschlossener war Virginia, Devlin zu finden. Gleichzeitig plagte sie eine nagende Angst, da sie gesehen hatte, dass Tom Hughes auf Devlin gezielt hatte.
„Ich suche meinen Mann“, erklärte sie einem der Wachposten am Eingang des Lagers. Der Mann nickte ernst und deutete auf einen Sergeanten, der eine Liste in Händen hielt.
Rasch traten sie zu dem jungen Offizier. Er schaute von der Liste auf. „Kann ich Ihnen helfen, Madam?“
Virginia schluckte. „Ich suche meinen Mann. Bitte führen Sie mich zu den Verwundeten und den Toten.“ Ihre Stimme zitterte.
„Wie ist der Name Ihres Mannes, Madam?“, fragte der Offizier.
Virginia zögerte. Sie durfte doch jetzt nicht zugeben, dass Devlin ein britischer Offizier war. „Neill“, sagte sie rasch, „Gerald Neill.“
Der Sergeant ging die Liste durch. „Nein, einen Neill haben wir hier nicht stehen, aber die Liste ist natürlich noch unvollständig. Sie können sich hier umschauen. Das Lazarett ist dort hinten, die Leichen liegen außerhalb des Lagers. Kommen Sie, Madam, ich bringe sie hin.“
Virginia war dankbar, dass der Mann keine weiteren Fragen stellte. Es kostete sie große Überwindung, durch die Reihen der schwer verwundeten Milizmänner und englischen Seesoldaten zu gehen. Eine Viertelstunde später war Virginia furchtbar übel, doch zumindest wusste sie jetzt, dass Devlin nicht unter den Verwundeten war. Als habe Tillie ihre Gedanken gelesen, sagte sie: „Er ist nicht hier, Sergeant. Könnten Sie uns zu den Leichen führen?“
Er nickte stumm und geleitete sie zum Seitenausgang des Lagers. „Die Toten liegen dort“, sagte er und deutete auf die langen Reihen menschlicher Leichname, die in der brennenden Sonne unter Decken, Planen und Laken dicht nebeneinander lagen. Virginia blieb stehen und hielt sich die Hand vor den Mund. „Ich kann das nicht“, wisperte sie.
„Ich gehe für Sie. Ich kann ihn identifizieren“, erklärte sich Frank sofort bereit.
„Gott segne dich“, hauchte Virginia und schluchzte.
Eine halbe Stunde später kehrte er zurück und zitterte. „Ich habe mir jeden Einzelnen angesehen“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Dort liegt nur ein Mann in blauer Uniform. Er ist nicht unter den Toten, Miss Virginia.“
Virginia hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, den der Sergeant ihr freundlicherweise gebracht hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Gott sei Dank“, flüsterte sie. Sie rang nach Fassung und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Devlin war weder unter den Verwundeten noch unter den Toten. Daher blieb nur eine Möglichkeit: Er befand sich unter den Kriegsgefangenen. Virginia klammerte sich an die aufkeimende Hoffnung. Aber wie sollte sie zu den Gefangenen gelangen, ohne preiszugeben, dass ihr Ehemann einer der Befehlshaber des grauenhaften Angriffs war?
Unsicher schaute sie zu dem Bretterverschlag hinüber, in dem die Gefangenen eingesperrt waren. Plötzlich gewahrte sie eine vertraute Gestalt, die soeben den Verschlag verließ und ein paar Worte mit den Wachposten wechselte. Noch traute sie ihren Augen nicht und stand voller Unruhe auf.
„Was ist?“, fragte Tillie besorgt und folgte Virginias Blick.
„Der kleine Mann dort drüben“, erwiderte sie atemlos, „den
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