Wild wie das Meer (German Edition)
sie atemlos. Jedes Mal, wenn die Holzdielen unten im Haus knarrten, zuckte sie zusammen und hielt den Atem an. Geistesgegenwärtig hatte sie einem Toten die Muskete entwendet und war fest entschlossen, auf der Stelle zu feuern, sobald sich auch nur ein britischer Soldat in der Dachkammer blicken ließe.
Tillie nickte, doch sie wirkte unsicher und ängstlich.
Unten auf der Straße waren keine Engländer mehr zu sehen. Zwei Häuser standen noch in Flammen. Leise schlichen Virginia und Tillie die Treppen hinunter und schlüpften ins Freie. Das Atmen fiel ihnen schwer, denn beißender Brandgeruch lag in der Luft. Der volle Mond stand einsam am Himmel.
Plötzlich waren laute Stimmen zu hören. Betrunkene Soldaten wankten lärmend durch die Straße.
„Wir müssen Frank finden“, wisperte Virginia, von neuer Furcht gepackt.
fn Tillies Augen schimmerten Tränen. „Wir wissen doch beide, dass er nicht mehr am Leben sein kann.“
Womöglich hatte Tillie recht, aber Virginia wollte diesen Gedanken nicht zulassen. Rasch liefen sie im Schütze der Dunkelheit eng an den Häusern vorbei. Virginia versuchte, nicht über den Schmerz in ihrem Bauch nachzudenken. Den ganzen Tag über hatte sie leichte Krämpfe verspürt, und das Kind hatte sich bewegt.
Bitte warte noch, sprach sie im Stillen mit ihrem ungeborenen Kind. Nur noch eine Weile, und sie wären wieder sicher in Sweet Briar.
Sie lief neben Tillie her und wünschte sich, Devlin möge wie aus dem Nichts erscheinen und sie aus diesem Ort des Schreckens befreien. Sie hoffte, er würde ihr sagen, wie leid ihm alles tue, dass er sie immer noch liebe und dass ihre Ehe wieder gut würde.
Doch als sie in eine Gasse bogen, sahen sie sich plötzlich fünf angetrunkenen und verwahrlost aussehenden Männern in roten Uniformen gegenüber.
Virginia und Tillie wirbelten herum und rannten in die andere Richtung.
Unvermutet stellte sich ihnen ein Mann in den Weg und hob den Säbel.
Instinktiv legte Virginia die Muskete an, fand den Abzug und zielte. Doch im selben Moment erkannte sie die marineblaue Uniformjacke, die goldenen Knöpfe und die Epauletten. Sie sah die klaren silbergrauen Augen, die harte Miene. Ihre Hände begannen zu zittern.
„Virginia!“, rief Devlin schroff. „Lass die Muskete fallen.“ Er senkte den Säbel.
Devlin. Im Stillen hatte sie gebetet, er möge kommen, und nun stand er vor ihr. Verblüfft und ungläubig ließ sie die Muskete sinken. „Devlin“, flüsterte sie und spürte Erleichterung. Sie war kurz davor, sich in seine Arme zu stürzen.
Doch sein Gesichtsausdruck änderte sich. Seine Augen weiteten sich, und Virginia sah, dass er den Säbel hob. Warnend rief er ihren Namen.
Und im selben Augenblick spürte sie das böse Ansinnen der Soldaten, die sich von hinten genähert hatten. Doch ehe sie reagieren konnte, wurde sie von groben Händen gepackt und herumgerissen. Ein Soldat sah sie mit glasigem Blick und unverschämtem Grinsen an. Die anderen Männer scharten sich um ihn, und einer hielt Tillie umklammert, die sich mit Händen und Füßen zur Wehr setzte.
„Da hab ich ja eine hübsche Hure“, stieß der Mann lachend hervor, und sein fauliger, von billigem Fusel überlagerter Atem raubte Virginia die Luft.
„Devlin!“, schrie Virginia und versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff des Soldaten zu befreien. Doch urplötzlich erschlafften seine Arme, der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus, und Virginia wurde von Blut bespritzt. Sprachlos sah sie, dass die Hand, die eben noch an ihre Brust gefasst hatte, vom Arm des Soldaten abgetrennt war. Entgeistert stierte der Mann auf seinen Armstumpf.
Da schwirrte ein Säbel durch die Luft, und der Kopf des Soldaten wurde vom Rumpf getrennt.
Virginia taumelte und hielt sich die Hand vor den Mund, als der verstümmelte und kopflose Rumpf in sich zusammensackte.
Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Devlin sich auf die anderen Soldaten gestürzt hatte. Seine von Zorn entstellten Züge waren beängstigend. Während er den Männern einen Hieb nach dem anderen versetzte, sank Virginia auf Knie und Hände und kroch, so schnell sie konnte, auf allen vieren davon. Erst jetzt machte sie sich bewusst, dass Devlins Zorn sich in einem wahren Blutrausch entlud. Als sie zurückblickte, beinahe gelähmt vor Angst und Entsetzen, gewahrte sie vier erschlagene Soldaten auf dem Boden. Von unbändiger Wut getrieben, griff Devlin den letzten der ehrlosen Fünf an, fest entschlossen, auch ihn zu töten. Plötzlich
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