Wilde Chrysantheme
Dauernieselregen hatte aufgehört, und die Wolkendecke begann aufzureißen. Tarquin bezahlte ihre Zeche, während frische Pferde vor den Phaeton gespannt wurden.
Sie fuhren zwischen den zerbröckelnden Steinpfosten hindurch, gerade als ein schwacher Sonnenstrahl durch die Wolken drang. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, als die Pferde durch große Pfützen entlang der Auffahrt trabten, die Juliana knapp eine Stunde zuvor in solcher Verzweiflung hinuntergerannt war.
Die Haushälterin öffnete eilig auf das dröhnende Pochen des Türklopfers. Ihr Ausdruck war erschrocken, ihr graues Haar hing wirr unter ihrer Haube hervor. Sie knickste vor den beiden Besuchern, mit Augen wie die eines verängstigten Kaninchens. Der Morgen hatte einfach zuviel Aufregung und Unruhe in ihren normalerweise friedlichen Tagesablauf gebracht.
»Sir George… ist er zu Hause?«
Dolly musterte die elegante, hochgewachsene Gestalt in dem Pellerinenumhang. Seine Stimme klang kalt und arrogant, aber sein Blick war noch kälter und bohrend wie ein Dolch.
»Nein, Sir… nein. Er ist ausgeritten… vor einer kurzen Weile. Er und seine Gäste.«
»Gäste?« Tarquin zog fragend eine Braue hoch.
»Ja… ja, seine Gäste, Sir. Ein Gentleman… todkrank war er. Hatte einen so schrecklichen Husten, daß er Tote damit hätte erwecken können… und ein Mädchen… eine junge Frau… auch krank. Sir George hat sie ins Haus getragen, in das Zimmer oben an der Treppe. Und dann sind sie alle gegangen.« Verängstigt schaute sie seitwärts und begegnete Quentins beruhigender Miene. Sie schien etwas Mut zu fassen, und ihre Finger lösten sich von der Schürze, wo sie die ganze Zeit ängstlich gezupft und geknetet hatten.
»Haben sie ein Ziel angegeben?« fragte Quentin sanft.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Aber sie sind zu Pferd unterwegs. Die drei auf zwei Pferden. Deshalb können sie nicht weit geritten sein.«
»Welche Straße nehmen wir, um nach Forsett Towers zu kommen?« Tarquins Stimme verriet noch immer nichts von seiner Erregung. Er wußte jetzt, daß sie nur noch einen Steinwurf von Juliana entfernt waren, und sein Zorn nahm vernichtende Dimensionen an. Lucien und George würden brutale Gewalt angewendet haben müssen, um sie zu zwingen, so weit mitzukommen. Und sie würden dafür büßen. Er ertränkte die schrecklichen Bilder dessen, was sie ihr angetan haben mochten, in der eisigen Gewißheit ihrer Bestrafung.
Lucien stürzte in dem Moment, als sie auf die kiesbestreute Auffahrt einbogen, die zu dem grauen Steingebäude von Forsett Towers führte. Er war den ganzen Ritt über kaum bei Bewußtsein gewesen, hatte in sich zusammengesunken über dem Hals des Pferdes gelehnt, die Zügel lose in seinen Fingern. Alle paar Minuten war sein Körper von fürchterlichen Krämpfen geschüttelt worden, während ihn ein Frösteln überlief und er in das jetzt scharlachrote Tuch hustete. Als sein Pferd in ein Schlagloch in der Auffahrt stolperte, glitt Lucien seitwärts. Das Pferd, das gescheut hatte, fiel in einen plötzlichen Trab, und sein Reiter kippte kopfüber aus dem Sattel.
Juliana beobachtete voller Entsetzen, wie das verwirrte Tier schneller und schneller lief: Lucien wurde, noch immer mit einem Fuß im Steigbügel, über den Schotter mitgeschleift. Er unternahm keinen Versuch, seinen Fuß zu befreien, baumelte nur hilflos an der Seite, bis es George schließlich gelang, dem Tier in die Zügel zu greifen und es zum Anhalten zu zwingen.
George schwang sich aus dem Sattel, wobei er Juliana mit sich zog. Er hielt sie weiterhin mit eisernem Griff um die Taille fest, als er Luciens Fuß aus dem Steigbügel befreite und dann auf die reglose Gestalt auf dem Boden hinunterstarrte. Lucien hatte sich den Kopf an etwas Scharfkantigem aufgeschlagen, und Blut pulsierte aus einer offenen Wunde auf der Stirn. Seine Augen waren geschlossen, und er atmete kaum mehr.
»Verdammter, elender Wicht!« fluchte George wütend, seine selbstsichere Fassade zum ersten Mal erschüttert, seit er Juliana auf der Landstraße eingefangen hatte. Er zog Juliana zu seinem Pferd zurück, hievte sie in den Sattel und saß dann hinter ihr auf.
»Du kannst ihn doch nicht einfach hier liegenlassen.« Juliana fand endlich ihre Stimme wieder. Sie wünschte Lucien zwar zum Teufel, aber der Gedanke, ihn bewußtlos und blutend im Stich zu lassen, war unerträglich.
»In dem Zustand nützt er mir nichts mehr.« George ergriff die Zügel von Luciens Pferd, drückte seinem
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