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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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Kinder, bevor ich ihn aufgeben mußte.«
    »Hättest du ihm nicht helfen können?« fragte Anyanwu. »Wäre er nicht wieder zu sich gekommen, wenn du ihm etwas Zeit gelassen hättest?«
    »Er griff mich an, Anyanwu. Menschen, bei denen Au s sicht auf Rettung besteht, tun das nicht.«
    »Aber …«
    »Er war wahnsinnig. Er hätte jeden angegriffen, der in se i ne Nähe gekommen wäre. Er hätte seine ganze Familie umgebracht, wenn ich nicht rechtzeitig hi n zugekommen wäre.« Doro lehnte sich zurück und fuhr mit der Hand über die Stirn. Anyanwu erinnerte sich daran, was er selbst vor langer Zeit seiner Fam i lie angetan hatte. Er hatte ihr die schreckliche Geschichte einmal erzählt. »Ich bin kein He i ler«, sagte er leise. »Ich rette Leben auf die einzige Art, die ich verstehe.«
    »Ich wußte bisher noch nicht, daß dir überhaupt etwas an der Erhaltung eines Menschenleben liegt!« stieß Anyanwu bitter hervor.
    Er sah sie an. »Dein Sohn ist tot, Anyanwu«, sagte er. »Es tut mir leid. Er wäre ein guter Mann gewo r den. Wenn ich geahnt hätte, daß die beiden eine Gefahr füreinander we r den könnten, hätte ich Joseph nie hierhergebracht.«
    Er schien die Worte, die er sprach, ernst zu meinen. Anyanwu konnte sich nicht erinnern, daß er jemals für i r gend etwas um Verzeihung gebeten hatte. Sie schaute ihn an, verwirrt, voller Verblüffung.
    »Joe hat mir nichts davon gesagt, daß sein Bruder den Ve r stand verloren hatte«, warf Margaret ein.
    »Joseph lebte nicht bei seiner Familie«, erklärte Doro. »Er kam mit seinen Leuten nicht zurecht, deshalb brachte ich ihn bei Pflegeeltern unter.«
    »Oh …« Margaret blickte zu Boden, schien zu begre i fen. Nur die Hälfte aller Kinder auf der Plantage lebten bei i h ren Eltern.
    »Margaret?«
    Sie sah ihn an, dann senkte sie hastig wieder den Blick. Er war auffallend rücksichtsvoll zu ihr, doch sie hatte i m mer noch Angst vor ihm.
    »Bist du schwanger?«
    »Ich wünschte, ich wäre es«, flüsterte sie. Leise b e gann sie zu weinen.
    »Es ist gut«, sagte Doro. »Es ist gut, das ist alles.«
    Rasch stand sie auf und eilte aus dem Zimmer. Als sie gegangen war, meinte Anyanwu: »Joseph war zu alt für einen Übergang, Doro. Alles, was du mich darüber gelehrt hast, sagt mir, daß er zu alt war.«
    »Er war vierundzwanzig. Ich habe bisher noch nie e r lebt, daß jemand in diesem Alter seinen Übergang hatte, aber …« Er brach ab und wechselte das Th e ma. »Du hast noch nicht nach seinen Vorfahren g e fragt, Anyanwu.«
    »Sie interessieren mich nicht.«
    »Du weißt längst Bescheid. Er war natürlich einer deiner Abkömmlinge.«
    Sie zuckte die Schultern. »Du hattest mir gesagt, daß du mir einen meiner Enkel bringen würdest.«
    »Er war der Enkel eines deiner Enkel. Beide Eltern füh r ten ihre Abstammung auf dich zurück.«
    »Warum erzählst du mir das jetzt? Ich möchte nichts mehr darüber hören. Er ist tot.«
    »Er stammte auch von Isaak ab«, fuhr Doro ungerührt fort. »Die Leute aus Isaaks Linie begannen manchmal e t was später mit dem Übergang, obwohl noch keiner so spät damit angefangen hat wie J o seph. Die beiden Kinder, die ich dir gebracht habe, sind Söhne des Körpers seines Br u ders.«
    »Nein!« stieß Anyanwu hervor und starrte ihn an. »Nimm sie wieder mit! Ich möchte nicht noch weitere von der So r te auf der Plantage haben.«
    »Du hast sie. Unterrichte und leite sie, wie du es bei de i nen eigenen Kindern machst. Ich sagte dir schon, daß es nicht einfach ist, mit deinen Nachkömmlingen umzugehen. Aber du hattest die Wahl, und du hast dich dafür entschi e den, dich um sie zu kümmern.«
    Anyanwu schwieg. Er hatte es so dargestellt, als h a be sie wählen können; so, als habe er ihr nicht gleichsam die Pi s tole auf die Brust gesetzt:
    »Wenn ich früher auf dich gestoßen wäre, hätte ich sie zu dir gebracht, als sie noch jünger waren«, sagte er. »Da dies nicht möglich war, wirst du alles für sie tun, was in deinen Kräften steht. Lehre sie Veran t wortung, Stolz und Ehre. Lehre sie alles, was du auch Stephen gelehrt hast. Aber sei nicht so dumm und sage ihnen, daß sie deiner Überzeugung nach als Verbrecher auf die Welt gekommen seien. Eines T a ges werden sie mächtige Männer sein, und so oder so werden sie deine Erwartungen erfüllen.«
    Anyanwu schwieg immer noch. Was gab es für sie noch zu sagen oder zu tun. Es blieb ihr nichts and e res übrig, als Doro zu gehorchen, wenn sie sich und ihre Kinder nicht in

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