Wilde Saat
so lange fliegen, bis du das offene Meer e r reicht hast, nicht wahr?« fragte Kane.
»Fliegen und wandern. Manchmal ist es sicherer, zu wandern.«
»Jesus!« murmelte er. »Du glaubst nicht, wie ich dich beneide.«
Sie aß, während sie zusammen sprachen. Vermutlich war es für einige Zeit das letzte Mahl, das sie zu sich nahm. Es gab Reis und Bratenfleisch, geröstete, süße Kartoffeln, Maisbrot, starken Kaffee, Wein und Obst. Ihre Kinder b e haupteten, sie äße wie eine arme Frau, aber Anyanwu b e achtete sie nicht. Sie war z u frieden. Sie sah Kane aus ihren blauen Edward-Warrick-Augen an.
»Wenn du keine Angst hast«, sagte sie, »werde ich ve r suchen, dich nach meiner Rückkehr an dieser Erfahrung tei l nehmen zu lassen.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir fehlt die Kontrolle dazu. Wenn Stephen noch lebte, würde ich es wagen. Aber ich allein …« Er zuckte die Schultern.
Ein bedrücktes Schweigen entstand, dann stieß Anya n wu den Stuhl zurück und erhob sich. »Ich br e che nun auf«, sagte sie unvermittelt. Sie verließ den Raum und stieg die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Dort entkleidete sie sich, öffnete die Tür zur oberen Galerie, verwandelte sich in einen Vogel und flog davon.
Ein ganzer Monat verging, bevor sie in der Gestalt eines großen Adlers, erholt und gestärkt von Wind und Meer, den Heimflug antrat. Sie verspürte einen gewaltigen Hu n ger, denn, krank vor Heimweh, hatte sie sich unterwegs nicht die Zeit zum Erjagen einer Beute genommen und war ohne Pause durchgefl o gen.
Sie umkreiste das Haus, um sich zu vergewissern, daß keine Besucher da waren – Fremde, die sich e r schrecken oder vielleicht auf sie schießen würden. Sie war auf dieser Reise dreimal von einer Kugel getroffen worden, und das reichte ihr.
Beruhigt stellte sie fest, daß keine Gefahr bestand. Sie landete auf einer Wiese in der Nähe des Hauses. Zwei Ki n der bemerkten sie und rannten in die Küche. Sekunden sp ä ter kamen sie, Rita hinter sich he r ziehend, wieder heraus.
Rita sah Anyanwu und lief durch das Gras auf sie zu. In ihrer Stimme war nicht die kleinste Unsicherheit, als sie sagte: »Ich nehme an, du bist hungrig.«
Anyanwu schlug mit den Schwingen.
Rita lachte. »Du gibst einen hübschen Vogel ab. Ich fr a ge mich, wie du dich am Eßzimmertisch ausnehmen wü r dest.«
Rita besaß schon immer einen etwas eigenartigen Sinn für Humor. Wieder schlug Anyanwu mit den Flügeln. Rita kehrte in die Küche zurück und brachte zwei Hasen, die bereits enthäutet und ausgenommen waren. Anyanwu schlug ihre Krallen in das Fleisch der Tiere und riß gierig große Stücke heraus, froh darüber, daß Rita die Hasen noch nicht zubereitet hatte. Während sie das Fleisch verschlang, trat ein Schwarzer aus dem Haus, der von Helen begleitet wurde. Der Mann war ein Fremder. Ein Freigelass e ner aus der Nachbarschaft vielleicht oder ein Flüc h tling. Anyanwu kümmerte sich um jeden schwarzen Flüchtling, sie tat alles für sie, was in ihren Kräften stand. Sie sorgte für Essen, kleidete sie ein und rüstete sie mit allem aus, was sie brauchten, um auf der Flucht übe r leben zu können. Ab und zu stellte sich heraus, daß einer der Flüchtlinge ins Haus oder auf die Plantage paßte. In einem solchen Fall zahlte Anyanwu den Kaufpreis für ihn.
Der Mann, der mit Helen näherkam, war gutauss e hend, von kleiner, gedrungener Statur und nicht viel größer als Anyanwu in ihrer eigentlichen Gestalt. Sie hob den Kopf und schaute ihn aufmerksam an. Wenn er einverstanden war, mit ihr das Bett zu teilen, wü r de sie ihn kaufen, auch wenn er seiner Veranlagung nach nicht zu ihnen paßte. Sie hatte schon zu lange keinen Ehemann mehr gehabt. Vor ü bergehende Liebhaber verloren nach einer gewissen Zeit ihre Anziehungskraft auf sie.
Unbewußt wandte sie sich wieder den beiden Hasen zu, während Helen und der Fremde ihr beim Fressen zusahen. Als ihre Mahlzeit beendet war, wischte sie ihren Schnabel im Gras ab, streifte den attraktiven Mann mit einem letzten Blick und flog mit schw e rem Flügelschlag um das Haus herum zur oberen Galerie. Dort ließ sie sich auf dem G e länder vor i h rem Schlafzimmer nieder. Behaglich dösend gab sie ihrem Körper die Möglichkeit, die genossene Spe i se zu verdauen. Es tat ihr gut, daß sie sich dafür Zeit ne h men konnte, es steigerte ihr körperliches Woh l befinden.
Schließlich wurde sie wieder die kleine, schwarzhä u tige und sehr weibliche junge Frau. Kane würde es nicht m ö
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