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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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er in ihr niemals den Mann, immer nur die Frau. Einmal hatte er sie gefragt, weshalb sie so beharrlich an der Männerg e stalt festhalte. »Ich habe nie gesehen, daß du den Körper einer Frau trägst«, hatte sie entgegnet. »Die Leute überlegen es sich, ob sie einen Mann angreifen – auch wenn er klein ist. Und sie werden nicht so wütend, wenn sie von einem Mann einen Schlag einstecken mü s sen.«
    Er hatte gelacht, aber er wußte, daß sie recht hatte. Als Mann war sie sicherer, obwohl hier unter den afrikanischen und europäischen Sklavenhändlern niemand wirklich sicher war. Es konnte durchaus passieren, daß er gezwungen war, seinen neuen Kö r per wieder zu verlassen, noch bevor sie Daly erreicht hatten. Doch Anyanwu würde man in Ruhe lassen. Dafür würde er sorgen.
    »Weshalb machen wir hier halt?« fragte sie.
    »Ich habe hier einen Verbindungsmann, der mir sagen kann, ob inzwischen irgend etwas mit meinem Volk g e schehen ist – das Volk, das ich mir gescha f fen habe. Dies hier ist der nächste Seehafen zu i h nen.«
    »Seehafen …« Sie wiederholte das Wort in der Sprache, in der er es gesprochen hatte, in Englisch. Er kannte das Wort für See oder Meer in ihrer Spr a che nicht. Er hatte ihr das weite, endlos erscheinende Wasser beschrieben, das sie überqueren mußten. Aber nun starrte sie ihn in stummem Entsetzen an.
    Das Rollen der Brandung, vermischt mit den qua l vollen Schreien des Sklaven, schien sie zu ängstigen. Sie machte den Eindruck, als würden die vielen e i genartigen und nie zuvor gesehenen Dinge sie übe r wältigen. Sie sah so aus, als wolle sie auf der Stelle kehrtmachen und wieder zurück in die Wälder flüc h ten, wie es die Sklaven oft versuchten. Sie wirkte völlig fassungslos, verzweifelt und in höchstem Maße entsetzt.
    Doro blieb stehen, schaute sie an und faßte sie fest bei den Schultern. »Nichts und niemand wird dir ein Leid z u fügen, Anyanwu!« Er legte seine ganze Überzeugungskraft in se i ne Stimme. »Weder die Sklavenhändler, noch das Meer, noch sonst irgend etwas. Ich habe dich nicht den langen Weg hierhe r gebracht, um dich nun zu verlieren! Du kennst meine Macht.« Er spürte, wie sie zitterte. »Dir droht von dieser Macht keine Gefahr. Ich habe dich zu meiner Frau erwählt. Du brauchst mir nur zu geho r chen.«
    Bei seinen Worten starrte sie ihn an, als vermöchten ihre Augen in seinem Gesicht zu lesen und die Wahrheit darin zu erkennen. Für gewöhnlich duldete es Doro nicht, daß jemand ihn in dieser Weise ansah, doch Anyanwu stand außerhalb des Gewohnten. In ihrem langen Leben hatte sie gelernt, in den Gesichtern der Menschen zu lesen und i h nen bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen – so wie auch Doro es gelernt hatte. Einige seiner Untertanen glaubten, er könne selbst unausgesprochene Gedanken lesen, so untrü g lich durchdrang er das Gespinst ihrer Lügen.
    Anyanwu schien beruhigt und entspannte sich lan g sam. Dann erregte eine Bewegung in der Nähe ihre Aufmer k samkeit. Ihre Haltung versteifte sich. »Ist das einer deiner weißen Männer?« flüsterte sie. Er hatte ihr von den Eur o päern erzählt, hatte ihr erklärt, daß sie mit ihrer hellen Haut weder Aussätzige noch Albinos seien. Sie hatte schon oft von solchen Me n schen gehört, bisher jedoch noch nie einen zu G e sicht bekommen.
    Doro warf einen Blick auf den näherkommenden We i ßen. Es war einer von Dalys Unteraufsehern. »Ja«, sagte Doro, »er ist einer von ihnen. Aber er ist nur ein Mensch und stirbt genauso leicht wie ein Schwarzer. Geh nicht in seine Nähe!«
    Sie gehorchte sofort und wich zurück.
    Doro hatte nicht die Absicht, diesen weißen Mann zu t ö ten, wenn er es vermeiden konnte. Bei seiner ersten Bege g nung mit Daly hatte er genug von dessen Leuten getötet. Daly hatte sich als einsichtig erwi e sen, und Doro ließ ihm das Leben.
    »Willkommen«, sagte der Weiße auf Englisch. »Hast du neue Sklaven für uns?« Natürlich, Doros neuer Körper war kein Fremder hier. Doro blickte zu Anyanwu hinüber, sah, wie sie den Sklavenhändler anstarrte. Der Mann trug einen Bart, er war schmu t zig und ausgemergelt, als leide er an einer Krankheit – was wahrscheinlich war. Dieses Land verschlang die Weißen. Der Sklavenhändler war eins seiner bedauernswerten Opfer, doch davon wußte Anyanwu nichts. Sie betrachtete den Mann aufmerksam. Ihre Neugier schien stärker zu sein als ihre Furcht.
    »Bist du sicher, mich zu kennen?« fragte Doro den Mann ruhig. Seine Stimme

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