Wilde Saat
lag. Sie drehte ihn um. Er war tot.
»Was hast du getan?« fragte sie das Kind.
»Dieser Mann weiß nun, was sein Hochmut ihm ei n bringen kann«, erklärte Doro. Seine Stimme klang hell und kin d lich. Nichts darin erinnerte an den Mann, der Doro gew e sen war. Anyanwu begriff nicht, was sie hörte, was es war, das sie in der Sti m me des Kindes erkannte.
»Halte dich von mir fern«, befahl Doro ihr. »Bleibe hier bei der Leiche, bis ich weiß, wie viele andere Leute seines Hofes dieser Narr seiner Überheblichkeit noch opfern wird.«
Anyanwu wünschte sich nichts sehnlicher, als sich von Doro fernhalten zu können. Sie hatte den Wunsch, ihm d a vonzulaufen und zu vergessen, was sie soeben gesehen ha t te. Sie senkte den Kopf und schloß die Augen. Verzweifelt kämpfte sie gegen das Grauen an, das sie erfaßte. Rings um sie her war der Lärm von Stimmen, aber sie nahm es kaum wahr. B e herrscht vom Gefühl der eigenen Furcht, schenkte sie nichts anderem sonst Beachtung, bis jemand sie niede r schlug.
Sie spürte, wie harte Fäuste nach ihr griffen, und sie wußte, daß man sie für den Tod des Kindes zur Reche n schaft zi e hen wollte. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß sie den Angreifer von sich und sprang auf, um zu kämpfen.
»Genug«, schrie Doro. Dann etwas ruhiger: »Töte ihn nicht!«
Sie sah, daß es der junge Mann war, den sie von sich g e schleudert hatte. Sie hatte ihn heftiger gestoßen, als es ihre Absicht gewesen war. Halb bewußtlos lehnte er mit dem Rücken an der Mauer des Gehö f tes.
Doro näherte sich ihm, und der Mann hob die Hand, als wolle er einen Schlag abdecken. Doro sprach auf ihn ein. Ruhig, und doch in einem Ton, der einen erschauern ließ. In einem Ton, der unmöglich aus dem Mund eines Kindes kommen konnte. Der Mann sank winselnd in sich zusa m men. Doros Stimme g e wann an Schärfe.
Der Mann erhob sich. Er warf einen Blick auf die Leute des Hofstaates, den er von seinem Vater geerbt hatte. Sie machten einen verwirrten und bestürzten Eindruck. Die meisten von ihnen hatten nicht mitbekommen, was eigen t lich geschehen war. Fragend blickten sie auf das neue Oberhaupt ihrer Stadt. Es waren Männer, Frauen und Ki n der. Von den Frauen waren einige wohl die Gattinnen oder Schwestern des jungen Mannes. Die Männer mußten seine Brüder oder Sklaven sein. Jeden von ihnen hatte die Ne u gier angelockt.
Vielleicht fühlte der junge Mann sich vor seinen Leuten gedemütigt und lächerlich gemacht. Vie l leicht konnte er die Tatsache nicht ertragen, daß er vor einem Kind auf der Erde kroch und winselte. Vielleicht aber war er auch ei n fach nur der aufgebl a sene Dummkopf, für den Doro ihn hielt. Was immer auch der Grund für sein Handeln sein mochte, er b e ging einen verhängnisvollen Fehler.
Laut fluchend entriß er Doro das Buschmesser, schwang es hoch und ließ es auf den Nacken des wehrlosen Kinde r kö r pers niedersausen.
Anyanwu blickte zur Seite. Sie war absolut sicher, was geschehen würde. Das Kind hätte genug Zeit gehabt, dem Buschmesser auszuweichen. Der junge Mann – vie l leicht noch halb betäubt von Anyanwus Stoß – hatte sich nur langsam bewegt. Doch das Kind hatte sich nicht von der Stelle gerührt und den Hieb mit stoischer Gleichgültigkeit erwartet. Anyanwu hörte die Stimme des jungen Mannes, der sich an die Z u schauer wandte. Sie hörte, daß es Doro war, der zu ihnen sprach. Wie hätte es anders sein können?
Die Menschen ergriffen schreiend und in panischem Entsetzen die Flucht. Einige stürmten durch das Ho f tor, andere kletterten über die Mauer. Doro beachtete sie nicht. Er drehte sich zu Anyanwu um.
»Komm, wir gehen«, sagte er. »Wir nehmen uns ein Boot und rudern selbst.«
»Warum hast du das Kind getötet?« Sie brachte nur ein Flüstern zustande.
»Um das junge Großmaul zu warnen«, sagte er und dehnte die Brust seines schlanken jungen Körpers. »Das Kind war der Sohn eines Sklaven und ist kein großer Ve r lust für den Königshof. Ich wollte an diesem Ort einen Mann zurücklassen, der Autorität b e saß und mich kannte. Doch dieser Narr nahm keine Lehre an. Komm, Anya n wu!«
Sie folgte ihm wie betäubt. Er konnte sich nach zwei Morden abwenden und mit ihr sprechen, als wäre nichts g e schehen. Er war sichtlich verstimmt, daß er den jungen Mann töten mußte. Doch diese Verstimmung war das ei n zige, was er empfand.
Hinter der Hofmauer warteten bewaffnete Männer. Anyanwu verlangsamte ihren Schritt, um Doro an sich vo r
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